Wat mengs du? – Die Smartwatch: Chance oder Gefahr fürs Gesundheitssystem
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Was, wenn Prävention zur Panik wird? Wenn Millionen Alarme ertönen, aber kaum jemand weiß, was sie bedeuten? Pierre Mangers schreibt in seiner Carte Blanche darüber, warum Smartwatches nicht das Problem sind, sondern ihr ungenutztes Potenzial – und warum es Vernunft braucht, um aus Daten Erkenntnis zu gewinnen.
Es beginnt im Kleinen. Ein Mann. Eine Uhr. Ein Alarm. Mehr braucht es nicht, um ein System ins Wanken zu bringen.
Herr Schmit ist 47. Sportlich. Schlank. Gesund – so sieht er sich selbst. Drei Tage lang vibriert sein Handgelenk: "Bluthochdruck." Jetzt sitzt er beim Hausarzt. Zwischen alten Illustrierten und neuen Sorgen. Wem soll er glauben – der Uhr oder der Medizin?
Zwei von drei Alarmen sind richtig. Einer ist falsch. Aber darum geht es nicht. Das Verstörende ist nicht der Irrtum der Technik. Es ist die Verunsicherung des Menschen.
Technologie mit Grenzen in einem Wachstumsmarkt
Seit September 2025 misst die Apple Watch den Blutdruck. Ein Triumph der Technik. Ein Sieg der Daten über den Körper. Auf dem Papier.
Die Statistik ist ernüchternd. 41,2 Prozent Sensitivität, 92,3 Prozent Spezifizität. In Klartext: Weniger als die Hälfte der Kranken wird erkannt. Jeder Dreizehnte Gesunde ist beunruhigt.
Pierre Mangers
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Pierre Mangers ist Strategieberater, Chemieingenieur und Stochastiker – er versteht Strukturen und Zufälle gleichermaßen. Nach Stationen bei ARBED, A.T. Kearney, PwC und EY, wo er Partner war, gründete er MANGHINI Consulting, spezialisiert auf Resilienz, digitale Transformation und strategische Weitsicht.
Während der Covid-19-Pandemie gehörte er der nationalen Research Taskforce an und arbeitete an statistischen Projektionen sowie der wirtschaftlichen Folgenabschätzung. Er ist Autor der Studie Wirtschaftliche Auswirkungen der Dienstleistungen der Agence eSanté und aktives Mitglied der Luxembourg Society of Statistics – überzeugt, dass Zahlen nicht nur erklären, sondern auch verpflichten.
Auch Samsung, Withings, Garmin – sie alle warnen. Aber sie diagnostizieren nicht. Eine Warnung ist kein Urteil. Nur ein Hinweis. Gleichzeitig wächst der Markt. Er pulsiert schneller als die Handgelenke seiner Nutzer. Smart Rings. Armbänder. Sensoren. Über zwanzig Prozent Wachstum im Jahr. Der Körper wird zur Datenquelle. Das Accessoire zum Instrument. Und der Mensch – er wird zum Versuch.
Luxemburg im Spiegel der Zahlen
In Luxemburg leben derzeit 681.973 Menschen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung leidet an Bluthochdruck. Rund 60.000 von ihnen könnte Ende 2025 eine Smartwatch mit Blutdruck-Alarmfunktion tragen. Doch Bluthochdruck ist altersabhängig wie die untere Abbildung veranschaulicht.
Quelle: Individual risk factors and geographic variations, 2013 to 2015 European Health Examination Survey, 09/2016.
Die EHES-LUX-Studie zeigte schon vor zehn Jahren, was bleibt: Jeder Dritte zwischen 25 und 64 hat Bluthochdruck. Bis zu siebzig Prozent wissen es nicht oder werden unzureichend behandelt.
Das ist kein Sonderfall Luxemburgs. Es ist das Muster aller wohlhabenden Länder: Hypertonie – das stille Volksleiden. Bluthochdruck ist nur ein Paradebeispiel dafür, wie Daten, KI und Algorithmik aus bloßen Zahlen Einsichten gewinnen. Und es gibt viele andere.
Hier beginnt die Rolle der Smartwatches. Kein Allheilmittel, nur ein erster, unvollkommener Baustein.
Das Paradox ist so schlicht wie ironisch: Die Uhr erkennt die Krankheit dort, wo sie am seltensten getragen wird. Die Mehrheit der Träger ist jung, digital, gesund. Nur ein Teil ist über 45 – jene, bei denen es zählt. Gewichtet man Alter und Prävalenz, landet man bei 24 Prozent: Unter 60 000 Nutzern sind etwa 14 400 hyperton. Die Uhr entdeckt 6.000, 8.400 bleiben unentdeckt. 3.500 Gesunde werden fehlalarmiert, die Hälfte rennt zum Arzt. Für die CNS bedeutet das jährliche Mehrkosten von 0,8 bis 1,4 Millionen Euro. Kein Drama, aber ein Menetekel: Wenn Prävention zur Panik wird, wächst der Aufwand, nicht die Gesundheit.
Ärzte im Dauerbetrieb
800 bis 900 Allgemeinärzte sind zugelassen, 200 bis 300 arbeiten voll in der Primärversorgung. Auf sie verteilen sich die zusätzlichen 1.750 Konsultationen pro Jahr. Das sind sechs bis neun Patienten mehr pro Arzt und Jahr. Kein Grund für Schlagzeilen, aber spürbar – in einem System, das auf Reserve läuft.
Europa schaut zu – Luxemburg könnte vorangehen
Deutschland und Frankreich winken ab. Smartwatch-Daten gelten dort als Spielerei – ein Produkt der Lifestyle-Industrie.
Im Norden denkt man weiter. Norwegen führt mit der Helseplattform gemeinsame Patientenakten ein. In Schweden haben Patienten direkten Zugang zu ihren Daten – Wearables sind Teil davon.
Und Luxemburg? Alles ist da: Geld, Infrastruktur, Erfahrung mit dem Dossier de Soins Partagé. Die Chance liegt nicht im Gerät. Sie liegt im System. Luxemburg ist klein genug, um Risiken zu beherrschen. Und groß genug, um ein Modell für Europa zu sein. Wer die Integration von Wearables und Patientenakten wagt, gibt der im Koalitionsprogramm versprochenen Präventionsstrategie endlich Gestalt. So könnte das Land werden, was anderen fehlt: Labor und Vorbild zugleich. Ein Ort, an dem digitale Medizin nicht nur gemessen, sondern verstanden wird. Wer klug integriert, profitiert doppelt – medizinisch und ökonomisch. Denn der Markt wächst längst über die Uhr hinaus.
Von Technik zu Strategie
Ein Alarm rettet niemanden. Er ist kein Notarzt, kein Medikament, kein System. Er ist ein Signal – und wie alle Signale braucht Alarm Deutung.
Erst die Einbettung in eine funktionierende Architektur verwandelt Daten in Wissen und Wissen in Handlung. Das Gerät am Handgelenk ist nicht die Revolution, es ist nur ihr Bote.
Damit aus Messung Medizin wird, braucht es mehr als Silizium und Sensoren. Es braucht Anreize, die Patienten motivieren, ihre Daten zu teilen, und Ärzte, sie zu nutzen. Es braucht Aufklärung, die Fehlalarme entdramatisiert, bevor sie Vertrauen zerstören. Und es braucht die ökonomische Vernunft, die Einsicht, dass Prävention immer billiger ist als Reparation. Wer Bluthochdruck früh erkennt, spart nicht nur Herzinfarkte und Schlaganfälle, sondern auch Geld. Gerade in einem Land, in dem jeder Dritte betroffen ist, siebzig Prozent davon nichts wissen – und die CNS mit einem Defizit von 25,8 Millionen Euro kämpft. Technologie allein heilt nichts. Doch eingebettet in ein System, das denken kann, könnte sie den Unterschied machen – zwischen einer smarten Uhr und einem intelligenten Gesundheitswesen.
"I wasted time, and now doth time waste me."
Shakespeare, Richard II
Wir haben begonnen, Zeit zu zählen – nicht sie zu begreifen. Und vielleicht ist das der wahre Verlust. Aber liegt nicht genau hier die Chance? Wenn wir Zeit nicht länger als Gegner, sondern als Partner verstehen, kann digitale Prävention zu einem Instrument des Fortschritts werden – für Patienten, Ärzte und das Gesundheitssystem zugleich.
Die Technik ist bereit. Sollten wir es nicht auch sein?
Drei Szenarien und eine Entscheidung
Luxemburg steht vor drei Wegen – und einem Test seiner politischen Intelligenz. Der erste ist der bequemste: Stillstand. Man lässt alles, wie es ist. Die Uhr misst, die Daten versanden, die Kosten steigen. Der Patient bleibt Versuchsperson, der Arzt Blitzableiter, das System überfordert. Der zweite Weg nennt sich Freiwilligkeit – das Lieblingswort der Halbherzigen. Patienten dürfen, Ärzte können, niemand muss. Ein paar Daten fließen, ein paar Euro werden gespart. Doch Geschichte schreibt man so nicht. Bleibt der dritte Weg: nicht der einfachste, aber der mit der besten Perspektive. Ein Modell, in dem Geräte ab einem bestimmten Alter bezuschusst und mit der elektronischen Patientenakte verknüpft werden.
Kurzfristig kostet es. Langfristig kann es sparen – Infarkte, Schlaganfälle, Systemkosten –, wenn es klug eingeführt, datenschutzfest und konsequent evaluiert wird. Für das Gesundheitsministerium ist das keine Kür, sondern Pflicht. Wer Technologien aus der Konsumwelt ignoriert, riskiert, dass Prävention zur Modefloskel verkommt. Es braucht Regeln, die Gadget von Medizinprodukt trennen, und Mut, ein Pilotprojekt zu wagen – von 2025 bis 2030, wissenschaftlich begleitet durch das LIH, flankiert von Anreizen und Evaluation. Erst das Monitoring wird zeigen, ob Prävention nicht nur Leben verlängert, sondern auch Budgets saniert. Das wäre dann kein Zufall, sondern Politik mit Weitsicht.
Wat mengs du?
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Ein Blick in die Zukunft
Was mit einem Mann und einer Uhr begann, ist längst mehr als Technik. Es ist eine Frage der Vernunft – und der Politik. Erkennt Luxemburg den Wert digitaler Prävention – und nutzt den Moment, ihn zu gestalten?
Man kann das alles abtun. Als Spielerei. Als Konsumelektronik mit medizinischem Anstrich. Doch in Wahrheit ist es ein Prüfstein. Die Uhr misst. Der Mensch interpretiert. Das System entscheidet – oder versäumt zu entscheiden. Hier liegt die eigentliche Chance: Technologie nicht als Störfaktor zu begreifen, sondern als Teil einer neuen Ordnung. Wer klug ist, koppelt die Daten an das DSP, schafft Vertrauen, Anreize, Transparenz. So wird aus digitaler Innovation eine gesellschaftliche Strategie. Aus Technik Verantwortung. Aus Daten Sinn. Luxemburg könnte werden, was Europa fehlt – schnell, klug, mutig: ein Labor der Zukunft.
Am Ende ist die Gleichung schlicht. Vorsorge ist kein Luxus. Sie ist Vernunft. Sie spart Leiden. Sie spart Geld. Und sie gibt dem System zurück, was es am dringendsten braucht: Ordnung im Chaos.
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Verteilung der Smartwatch-Nutzer
- 25–34 Jahre: 25,2 %
- 35–44 Jahre: 30,0 %
- 45–64 Jahre: 35,0 %
- 65+ Jahre: 9,8 %
Prävalenz Bluthochdruck nach Altersgruppen
- 25–34 Jahre: 10 %
- 35–44 Jahre: 15 %
- 45–64 Jahre: 30 %
- 65+ Jahre: 66 %
Daraus: Prävalenz (gewichtet) = 0,252⋅0,10 + 0,300⋅0,15 + 0,350⋅0,30 + 0,098⋅0,66
= 0,0252 + 0,0450 + 0,1050 + 0,06468 = 0,23988 ≈ 24 %Ø Hypertonie-Prävalenz ≈ 24 %
Szenario Luxemburg
- 60.000 Smartwatch-Träger mit Blutdruck-Alarmfunktion
- 14.400 Hypertoniker (24 %)
- Sensitivität 41,2 % → 0,41*14.400=5.904 undefiniert 6000 erkannt (True Positives: TP)
- Spezifizität 92,3 % → (1-0,923)*(1-0,24)*60.000 = 3.511,2 undefiniert 3.500 Fehlalarme (False Positives: FP)
- Positive Vorhersagewahrscheinlichkeit 62,9 % (TP/(TP+FP), das bedeutet: von 100 Alarmen sind etwa 63 korrekt, 37 hingegen Fehlalarme
Folgen
- Bei 50 % der 3.500 Fehlalarme suchen Patienten ihren Hausarzt auf.
≈ 1.750 Konsultationen eines Allgemeinmediziners - Etwa ein Drittel der 1.750 Konsultationen, rund 585 Fälle führen zu einer kardiologischen Abklärung
- In Summe entstehen dadurch zusätzliche Ausgaben von etwa 0,8–1,4 Millionen Euro pro Jahr für die CNS.
Kernaussage
Eine moderne Smartwatch kann fast die Hälfte von Hypertoniker in Luxemburg (1/3 der Bevölkerung) entdecken, wo 70 % nichts davon wussten oder unzureichend behandelt waren.