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Das Lëtzebuerger Journal feiert bereits seinen zweiten digitalen Geburtstag. Wir haben unseren Platz in der Medienlandschaft gefunden, uns weiterentwickelt und sind bereit für 2023. Das alles wäre ohne die Menschen, die uns ihre Erfahrungen und Sichtweisen schildern, nicht möglich. Zu diesem Anlass hat sich jedes Teammitglied einen Beitrag ausgesucht, dessen Geschichte ihn oder sie in diesem Jahr nicht losgelassen hat.
Es ist nun knapp ein halbes Jahr her, dass ich einen sonnigen Sommerabend in einem Saal mit fünf beeindruckenden Menschen verbracht habe, die in Esch/Alzette lesen und schreiben lernen. Einige von ihnen standen nur Monate vor dem Ruhestand, andere sind vor kurzem Eltern geworden. Ihr genaues Alter habe ich nicht erfragt, aber alle hatten genug Erfahrung gesammelt, dass klar war: Sie müssten nicht hier sein. Ihr „funktionaler Analphabetismus“ – eine Unfähigkeit, komplexe Sätze zu lesen, weil es nie gelernt wurde die etwa eine von acht Personen betrifft – machte ihnen das Leben schwer, ja. Aber das waren sie gewohnt. Nein, sie alle waren dort, weil sie es wollten. Für ihre Söhne und Töchter, für die tratschende Nachbarschaft. Und für sich selbst.
Eine unterschwellige, aber absolut zentrale Nuance im Journalismus – und in der Weltanschauung generell – ist die Frage nach individueller Verantwortung. Ist Armut das Resultat von persönlichem Versagen oder strukturellen Fehlern im System? Ist Kriminalität Zeuge moralischer Schwäche? Oder fehlender Sicherheitsnetze für Menschen am Rande der Gesellschaft? Entsteht funktionaler Analphabetismus durch Faulheit? „Dummheit“? Oder weil die Betroffenen irgendwo, irgendwann fallen gelassen wurden und niemand ihnen beim Aufstehen geholfen hat? Kein einzelner Tag hat bisher meine Überzeugung derart bestätigt, dass jeder Mensch die Summe individueller Umstände ist, wie dieser sonnige Sommerabend.
Alle Interviewpartner*innen erzählten, im Kern, die gleiche Geschichte: Ihr Schulstart war von Schwierigkeiten geprägt, akademisch wie sozial. Ihre Familien konnten sie aus unterschiedlichen Gründen nicht auffangen. Nachhilfe und Kinderpsycholog*innen waren keine Option. Nach diesem Fehlstart hatten sie so nie die Gelegenheit, den Rückstand aufzuholen. Jede persönliche Motivation war durch die vernichtenden Erfahrungen erlöscht.
„Eine unterschwellige, aber absolut zentrale Nuance im Journalismus – und in der Weltanschauung generell – ist die Frage nach individueller Verantwortung.“
Als Person, deren Schulstart von Legasthenie geprägt war, waren es brutale Berichte. Der Unterschied zwischen „b“ und „d“ war für mich eine schier unüberwindbare Hürde, die nur unter Tränen und mit harter Arbeit überkommen wurde – weniger meiner eigenen, als die vieler Menschen in meinem Umfeld, allen voran meiner Eltern, die mich unter großer Anstrengung über die Startlinie gedrückt haben.
Die Personen vor mir waren mein What-If-Szenario – wie eigentlich fast alle Menschen. Nur war es in diesem Fall intuitiv, unleugbar deutlich. Wo ich aufgefangen wurde, von Eltern die Zeit hatten und Lehrer*innen, die sich für mich eingesetzt haben, wurden diese fünf (von 450 jährlich) in Esch/Alzette fallen gelassen. Unter anderen Umständen würden wir in den Schuhen des*der anderen stecken. Und heute, für einige über 50 Jahre später, rappeln sie sich aus eigener Kraft auf. Ihre Kinder können lesen und schreiben oder sind dabei, es zu lernen. Weil ihre Eltern weder dumm noch faul sind. Sondern weil ihnen die Unterstützung verwehrt wurde, die wir alle manchmal brauchen – und die uns allen zustehen sollte.