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Das Lëtzebuerger Journal feiert bereits seinen zweiten digitalen Geburtstag. Wir haben unseren Platz in der Medienlandschaft gefunden, uns weiterentwickelt und sind bereit für 2023. Das alles wäre ohne die Menschen, die uns ihre Erfahrungen und Sichtweisen schildern, nicht möglich. Zu diesem Anlass hat sich jedes Teammitglied einen Beitrag ausgesucht, dessen Geschichte ihn oder sie in diesem Jahr nicht losgelassen hat.
Senior*innen, Pensionär*innen, Omas und Opas – egal, wie man sie betitelt, sie sind jener Teil der Gesellschaft, der den von (beruflicher) Aktivität geprägten Part des Lebens bereits hinter sich hat. Jene Personen, die schleichend in ein passiveres Dasein rutschen, deren Fähigkeiten langsam, aber sicher abnehmen und die irgendwann auf Hilfe angewiesen sind. Menschen im letzten Abschnitt des Lebens sind aber auch diejenigen, die ein Reichtum besitzen, das mich immer wieder gebannt zuhören lässt – ein Reichtum an Geschichten, die sie erlebt haben, an Erfahrung, die über ein ganzes Leben lang gesammelt wurde und der daraus resultierenden Weisheit, auch wenn sie manchmal nicht der klassischen Definition entspricht.
Unüblich für den „herkömmlichen“ Journalismus habe ich am Anfang meines Textes zum Umgang mit Menschen, die an einer Altersdemenz erkrankt sind, von meiner eigenen Erfahrung erzählt, denn zwei meiner Großeltern hatten, bzw. haben Alzheimer, die häufigste Form von Demenz. Was viele Angehörige schnell überfordert, sehe ich als Teil des Altwerdens. Wie meine Oma sagen würde: Man „verkindlicht“ halt wieder. Im hohen Alter verkriechen sich die Gedanken in die Vergangenheit. Das, was längst zum „Passé“ gehört, wird in der Erinnerung wach, als wäre es gestern gewesen. Erst kürzlich Erlebtes fällt hingegen der Vergesslichkeit zum Opfer, Basics wie Tischmanieren oder die Etikette in der Öffentlichkeit sind wie weggewischt, denn was noch vor zwei Minuten war, ist im Bewusstsein von Menschen mit Demenz schon nicht mehr da.
Natürlich, die Gespräche werden repetitiver, der Austausch beschränkt sich meist auf „al Kamellen“ und die gemeinsamen Stunden finden größtenteils – wenn nicht gar ganz – im heimischen Stübchen statt, schließlich lassen mit voranschreitender Demenz auch die physischen Fähigkeiten nach. Dennoch gehört der Mensch, dessen Gedächtnis von der Krankheit getrübt wird, nicht bereits vergessen, bevor er vergangen ist – im Gegenteil. Gerade dann, wenn die Erinnerung schwindet, wird Zuneigung benötigt. Eine liebevolle Geste, eine Umarmung, ein ermutigender Händedruck. Halt all das, was man selbst braucht, wenn man sich verloren und unsicher fühlt. Und für Menschen mit Demenz wird Unsicherheit irgendwann zum ständigen Begleiter.
„Gerade dann, wenn die Erinnerung schwindet, wird Zuneigung benötigt. Eine liebevolle Geste, eine Umarmung, ein ermutigender Händedruck. Halt all das, was man selbst braucht, wenn man sich verloren und unsicher fühlt.“
Meine Großmutter, die im November ihren 93. Geburtstag gefeiert hat, vergisst so etwa jegliche Details zu unserer beruflichen Tätigkeit, Beziehungsstatus oder aus gemeinsamen Konversationen – was allerdings bleibt, ist das erleichterte Aufatmen auf ein „Ja“ zu ihrer Frage, ob ihre Kinder und Enkel*innen denn glücklich sind. Aufgrund ihrer Krankheit weiß sie nicht länger, wo mein Freund arbeitet, dass ich seit fast zehn Jahren selbst berufstätig bin oder wie ihre Betreuerin heißt, die 24/7 bei ihr lebt und sie pflegt. Alles Details, die eigentlich auch unwichtig sind, denn was für sie zählt, ist das Wissen darüber, dass sie uns etwas mit auf den Weg geben konnte und die Bestätigung, dass wir zufrieden sind. Eine Art Weisheit eben, oder einfach das profunde Wissen darüber, was im Leben wirklich wichtig ist.
Ich könnte Seiten füllen mit den vielen Geschichten, die meine „Boma“ mir erzählt hat und die mich jedes Mal wieder mit Faszination bannen. Seiten mit all den Sprüchen, die mich schmunzeln lassen, hinter denen jedoch immer ein Stückchen Weisheit sticht. Und ich könnte Seiten füllen darüber, wie wichtig der richtige Umgang mit Menschen mit Demenz, aber auch alten Menschen generell ist – denn wie auch sie werden wir alle irgendwann einmal alt und können nur darauf hoffen, dass jemand sich dies zu Herzen nimmt.