Das kann doch nicht jedes Kind

Von Misch Pautsch

Etwa eine von acht Personen in Luxemburg ist funktional analphabetisch, hat also Schwierigkeiten, längere Texte inhaltlich zu verstehen. Viele dieser Menschen haben über Jahre gelernt, ihre Situation zu verheimlichen, „Theater zu spielen“ für eine Gesellschaft, die sie lange im Stich gelassen hat. Fünf von ihnen berichten, wie sie den Mut gefunden haben, ihr Leben zu verändern.

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„‚G‘ und ‚K‘, das sind schwierige Buchstaben, wenn sie hinten am Wort stehen. Denn dort können wir den Unterschied nicht hören“, sagt Danielle Rieff, während sie die Arbeitsblätter mit Lückentexten verteilt. „Der Trick ist, das Wort in die Mehrzahl zu setzen, dann hört man den Unterschied deutlich: Anzug, Anzüge.“ Die drei Frauen und zwei Männer, die ihr gegenüber in einem Saal der Université Populaire in Esch-Belval sitzen, haben sich zu einem Schritt entschieden, der ihnen viel Mut abverlangt hat: Sie wollen lesen und schreiben lernen. „Endlich“, sagt Claire (alle Namen der Kursteilnehmer*innen von der Redaktion geändert) die kurz vor der Rente steht nach dem Kurs. „Wenn nicht jetzt, wann dann?“

Was für einen Großteil der Gesellschaft selbstverständlich scheint, ist alles andere als das. Etwa eine*r von acht Erwachsenen ist funktional analphabetisch, hat also Schwierigkeiten, Texte zu lesen und inhaltlich zu verstehen, die länger als ein kurzer Satz sind. Für viele unter ihnen sind selbst einzelne Wörter teilweise eine Herausforderung. Jede Anleitung, jedes Formular, jeder Zeitungsartikel oder Fahrplan ist eine schier unüberwindbare Hürde. Ältere Menschen sind deutlich öfter betroffen als junge, und Männer mit 58,4 Prozent etwas häufiger als Frauen. Viele sind beruflich aktiv, oft im gastronomischen Bereich oder als Reinigungskraft. Dies ist auch der Fall für die Kursteilnehmer*innen: Marcel ist seit 39 Jahren Bäcker, Claire war Reinigungskraft, Katie übt diesen Beruf aktuell aus. Funktionaler Analphabetismus entsteht, wenn eine Person durch gleich mehrere Löcher im System fällt: Sie wären fähig zu lesen, nur haben sie es nie gelernt. Gründe dafür gibt es viele und, wie die Lernenden berichten werden, meist mehrere gleichzeitig.

Ein Alltag ohne Lesen

Alle Kursteilnehmer*innen haben Strategien entwickelt, ihre Situation zu verheimlichen: „Schließlich wird man sofort als dumm dargestellt, wenn jemand herausfindet, dass du nicht lesen oder schreiben kannst. Denn ‚das kann ja jedes Kind‘. Es wäre ein Horror, wenn meine Nachbarin das hier lesen würde …“, fasst Anne ihr seit fast 60 Jahren andauerndes Versteckspiel zusammen. In der Schule hat sie gelernt „zu stricken und mit Makramee zu arbeiten“, aber „nicht die Sachen, die wir wirklich brauchen. Also spielen wir Theater für die Leute, damit sie sich nicht über uns lustig machen.“ Es ist eine Fassade, die nicht einfach aufrecht zu halten ist, schließlich ist die Fähigkeit lesen zu können in fast jeder Alltagshandlung eine Voraussetzung.

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