Retro - Im Schatten der Justiz

Von Camille Frati Für Originaltext auf Französisch umschalten

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Das Lëtzebuerger Journal feiert bereits seinen zweiten digitalen Geburtstag. Wir haben unseren Platz in der Medienlandschaft gefunden, uns weiterentwickelt und sind bereit für 2023. Das alles wäre ohne die Menschen, die uns ihre Erfahrungen und Sichtweisen schildern, nicht möglich. Zu diesem Anlass hat sich jedes Teammitglied einen Beitrag ausgesucht, dessen Geschichte ihn oder sie in diesem Jahr nicht losgelassen hat.

Ein zweites Jahr ist seit der Wiedergeburt des Journals im Internet vergangen. 365 Tage, die unsere redaktionelle Linie und ganz einfach unsere Entschlossenheit bestätigen, anders über Luxemburg zu berichten, neue Wege zu beschreiten, zu zeigen, was die Bewohnerinnen und Bewohner und andere Menschen jenseits von Ankündigungen und Statistiken erleben. Dabei bleiben wir so nah wie möglich an den wesentlichen und unumgänglichen Themen, vom Wohnungsbau bis zum Kampf gegen den Klimawandel.

Gerichtskämpfe interessieren mich besonders, weil sie oft die Diskrepanz ausdrücken, die zwischen den geltenden Gesetzen und der Entwicklung der Gesellschaft bestehen kann. Es kommt selten vor, dass eine Regierung ein Gesetz aus eigenem Antrieb ändert. Sie tut dies vielmehr unter dem Druck der Gesellschaft, der sich auf der Straße und vor Gericht manifestiert.
 
Manchmal bleibt die Regierung – oder die Verwaltung – stur. So erging es Jeanne Wagner, die zwölf Jahre lang mit der hartnäckigen Weigerung des Familienministeriums konfrontiert war, eine alleinstehende Frau Mutter werden zu lassen. Das Ministerium klammerte sich an das Gesetz, aber vor allem an eine rückwärtsgewandte und festgefahrene Vorstellung davon, was eine Familie sein sollte. Und es trat die Rechtmäßigkeit mit Füßen, da die Volladoption ihrer Tochter von ihrem Heimatland Peru genehmigt und bestätigt worden war. Jeanne Wagner musste bis nach Straßburg vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen, damit die Verletzung ihrer Grundrechte durch Luxemburg endlich anerkannt wurde.
 

Hinter jedem Gerichtsurteil steht eine Person, eine Familie, deren Leben direkt betroffen ist.

Jeanne Wagners Sieg hat jedoch einen Beigeschmack, da bis heute, 15 Jahre nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, das luxemburgische Gesetz immer noch nicht geändert wurde. Die Folge: Die Staatsanwaltschaft des Bezirksgerichts lehnt systematisch Adoptionen ab, die im Ausland von alleinstehenden Frauen erworben wurden, und diese müssen vor Gericht ziehen, um ihren Fall zu vertreten. Das bedeutet Anwaltskosten und die Sorge, dass ihnen die Legalisierung der untrennbaren Bindung zwischen ihnen und ihrem Kind verweigert wird, obwohl ein einfacher Stempel ausreichen sollte. Das Justizministerium hatte mir im Frühjahr mitgeteilt, dass die Änderung des Gesetzes im Herbst 2022 erfolgen sollte. Bisher gibt es keinen Eintrag.
 
Vielleicht würde ihre Stimme, wenn Tausende von Menschen betroffen wären, genug Gewicht haben, um schneller etwas zu bewegen. Aber trotzdem: Hinter jedem Gerichtsurteil steht eine Person, eine Familie, deren Leben direkt betroffen ist. Wie der Koch, der nach seiner Rückkehr aus dem Elternurlaub entlassen wurde, oder der Milchbauer, der gegen das ungerechte System der Quotenverteilung kämpfte – ein Kampf, der mit der Neuorganisation der Justiz in Luxemburg endete. Sie haben ihr Recht bekommen, ja, aber um den Preis von jahrelangem Stress und Ängsten oder sogar finanziellen Schwierigkeiten.
 
Deshalb gilt eine der Prinzipien des Journals, nämlich den Menschen wieder in den Mittelpunkt unserer Artikel zu stellen, besonders dem Bereich der Justiz, wo wir uns an Urteile und Beschlüsse erinnern und dabei oft diejenigen vergessen, deren Leben sie verändert haben. Ich spreche von diesen Menschen und auch von den Anwälten und Anwältinnen, die in diese Fälle involviert sind. Der Podcast Histoires d’avocats ist für mich ein Mittel, den Schleier über den Anwält*innen zu lüften und ihnen die Möglichkeit zu geben, ihr Fachgebiet zu erklären, ihre Erfahrungen auszudrücken und über die vorgefassten Meinungen über ihren Beruf hinauszugehen. Ich möchte zeigen, dass hinter der Robe mehr steckt als ein Gehirn, das das Zivilgesetzbuch auswendig gelernt hat – ein Mensch, der oft von seinem Fachgebiet begeistert ist und seine Mandant*innen verteidigen will, die er*sie manchmal jahrelang begleitet.

© Lex Kleren