Retro - Das eine schließt das andere nicht aus

Von Sarah Raparoli

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Das Lëtzebuerger Journal feiert bereits seinen zweiten digitalen Geburtstag. Wir haben unseren Platz in der Medienlandschaft gefunden, uns weiterentwickelt und sind bereit für 2023. Das alles wäre ohne die Menschen, die uns ihre Erfahrungen und Sichtweisen schildern, nicht möglich. Zu diesem Anlass hat sich jedes Teammitglied einen Beitrag ausgesucht, dessen Geschichte ihn oder sie in diesem Jahr nicht losgelassen hat.

Auch wenn einige noch immer annehmen, dass wir beim Lëtzebuerger Journal ausschließlich Feelgood-Journalismus betreiben, zeichnen unsere Texte ein anderes Bild. „Wir kuscheln mit niemandem“, ist eine Aussage unserer Chefredakteurin Melody Hansen, die nicht treffender sein könnte. Man kann über das Geschehen rund um den Globus so oder so berichten – wir haben uns für eine Variante entschieden, von der wir überzeugt sind, dass sie der gesamten Branche langfristig mehr bringen wird. Das Lëtzebuerger Journal möchte für konstruktiven Journalismus stehen, der nicht nur kritisch berichtet und Schwachstellen im System aufweist, sondern auch zeigen möchte, wo bereits an Lösungen gearbeitet wird und vor allem wer sich dafür einsetzt, dass unsere Welt eine bessere wird.

Rückblickend bin ich 2022 auf viele solcher Personen gestoßen. Menschen, die sich nicht verunsichern lassen und nicht aufgeben. Einige dieser Menschen habe ich an einem grauen Aprilmorgen in einer Kita in der Nähe des Flughafens kennengelernt. Die Crèche Sunflower Montessori hat kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine am 24. Februar zwanglose Treffen unter dem Namen Ukrainian Coffee Mornings auf die Beine gestellt. Frauen und ihre Kinder, die aus ihrer Heimat flüchten mussten, wurden auf einen Kaffee oder ein Stück Kuchen eingeladen. Diese Treffen sollten jedoch auch dabei helfen, dass sie endlich wieder durchatmen können.

Augen zu. Die kreisenden Gedanken weit wegschieben. Das, was sie erlebt haben, für einen kleinen Augenblick vergessen. Kinder einfach Kinder sein lassen. Das, was ich sah, hat mich mit genauso viel Hoffnung wie Schmerz erfüllt, denn obwohl das Gelächter der Kleinen durch das ganze Gebäude halte und die Mütter scheinbar dankbar waren, an diesem Treffen teilnehmen zu können, sprachen ihre Augen eine andere Sprache. „Ich weine jeden Tag“, erzählte mir Iryna, die mit ihren Kindern nach Luxemburg flüchtete. „Ich sah Fotos von Kindern, denen Name und Telefonnummer ihrer Eltern auf den Rücken geschrieben wurde. Falls die Eltern nicht überleben würden.“ Nicht nur ihre Augen wurden bei diesen Bildern feucht.

„Einige sind der Meinung, ich sei nicht hart genug, ich sei zu nah am Wasser gebaut. Ich würde nicht dem Bild einer knallharten Journalistin entsprechen. Aber muss ich das denn überhaupt?“

Diese zwei Stunden waren schwer und genau das wollte ich mir auf keinen Fall anmerken lassen. Diese Menschen haben das Schlimmste durchgemacht, was jemand durchmachen kann, und dann stehe ich hier und weine? Ich habe mich in einen anderen Raum zurückgezogen, habe mich umgedreht und auf die Pinnwand, übersäht mit bunten Zeichnungen, geblickt. Meine Augen haben sich mit Tränen gefühlt. Ellen, eine der Verantwortlichen der Kita, hat ihren Arm um mich gelegt. „Schäm dich nicht. Lass alles raus.“ Dieses Gefühl von Geborgenheit und Verständnis wurde mir – und mit Sicherheit auch allen anderen Anwesenden – den ganzen Morgen hinweg entgegengebracht.

Ich gebe zu: Einige sind der Meinung, ich sei nicht hart genug. Ich sei zu nah am Wasser gebaut. Ich würde nicht dem Bild einer knallharten Journalistin entsprechen. Aber muss ich das denn überhaupt? Ich fühle mit. Ich versuche mich mit den Menschen, die mir gegenübersitzen, zu identifizieren und bin dankbar, dass sie mich an ihren Geschichten teilnehmen lassen. Ich möchte ihnen zeigen, dass vor ihnen ein Mensch mit Gefühlen sitzt. Ich versuche, ihnen einen sicheren Ort zu bieten.

Ich kann einen den Qualitätskriterien unseres Mediums entsprechenden Artikel schreiben und gleichzeitig Emotionen zeigen. Das eine schließt das andere nicht aus. Solche Menschen wie Iryna – oder auch Alyona und Marina, zwei weitere Frauen, die ich an jenem Morgen in der Kita kennengelernt habe – zeigen mir immer wieder aufs Neue, dass das, was wir machen, richtig und wertvoll ist.

© Marc Lazzarini