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Obwohl sie auf den Straßen und in den Unternehmen sehr präsent sind, bleiben die Grenzgänger*innen im politischen Raum Luxemburgs unsichtbar. In Zeiten zunehmender Diskriminierung stellt sich die Frage nach ihrer Repräsentation.
Im Jahre 1980 waren es weniger als 7.000, im Jahr 2000 79.300 und heute sind es mehr als 200.000. Zunächst wurden die Grenzgänger*innen in der Arbeitswelt mit offenen Armen empfangen, um die florierende Wirtschaft anzukurbeln, doch seit einigen Jahren spüren sie, dass sich der Wind gedreht hat. Sie seien die Ursache für Verkehrsstaus zu Stoßzeiten, würden sich nicht genug anstrengen, um Luxemburgisch zu lernen, ihr Einkommen in ihrem Heimatland ausgeben und seien alles in allem nur Profiteur*innen.
Diese Klischees, die in den Kommentaren auf Nachrichten-Websites eifrig wiederholt werden, finden sich manchmal sogar im politischen Diskurs wieder. Der ehemalige Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) schloss sich einst den Argumenten seiner Kolleg*innen François Bausch und Carole Dieschbourg (beide déi gréng) an, die gegen die Ansiedlung der Fage- und Knauf-Fabriken waren, und übernahm einen verächtlichen Diskurs gegenüber Grenzgänger*innen: „Ich nenne euch als Beispiel ein Unternehmen, das 100 Arbeitsplätze schaffen würde, darunter 95 für Grenzgänger, die zum sozialen Mindestlohn bezahlt würden. Welche Bedeutung haben dieses Unternehmen und seine Beschäftigten noch für die Steuereinnahmen?“ Später nahm er diese Aussage zurück.
Schleichenderweise traten diskriminierende Maßnahmen schon viel früher auf. Bereits 2005 stellte der Gerichtshof der Europäischen Union das Großherzogtum wegen der Erziehungsbeihilfe, die einer deutschen Grenzgängerin verweigert wurde, an den Pranger. Im darauffolgenden Jahr behauptete die Regierung Juncker-Asselborn I, die Desindexierung des Kindergeldes durch die Einführung von Betreuungsschecks auszugleichen. „Wir hatten die außerschulische Kinderbetreuung (‚chèques service accueil‘, d. Red.) begrüßt, aber darauf hingewiesen, dass in der Zwischenzeit viele Menschen nicht davon profitieren konnten, insbesondere die Grenzgänger“, erinnert sich Sylvain Hoffmann, Direktor der Arbeitnehmerkammer (CSL). „Ich weiß nicht, ob damals die Absicht bestand, jemanden von der Regelung auszuschließen, aber mit den Studienbeihilfen wurde ziemlich klar, dass die Regierung genau das vorhatte.“
„Eine Gewerkschaft, die nur aus Grenzgängern besteht, tut sich selbst keinen Gefallen.“
Roberto Mendolia, Vorsitzender der Aleba
Tatsächlich stellt die frontalste und offensichtlichste Maßnahme die Reform des Kindergeldes von 2010 dar, mit der diese Leistungen ab der Volljährigkeit der Kinder von Ansässigen und Grenzgänger*innen abgeschafft und durch Stipendien ersetzt wurden, die nur den Kindern von Ansässigen zur Verfügung stehen.
Der damalige Hochschulminister François Biltgen erklärte: „Ein für alle offenes System wäre nicht finanzierbar“, während Juncker in einem Brief an eine belgische Senatorin versicherte, dass die Ablehnung der Reform für die Kommission bedeuten würde, „uns zu zwingen, die Hochschul- und sogar die Jugendpolitik anderer Mitgliedstaaten mitzufinanzieren, und uns damit zu zwingen, unsere eigene Politik zugunsten der Bevölkerung, für die wir vorrangig zuständig sind, nämlich unsere jungen Ansässigen, rückgängig zu machen“.
Der Rest ist bekannt: drei Urteile des EuGHs, die das luxemburgische Gesetz aufheben, und Tausende benachteiligte Grenzgänger*innen. Diejenigen, die dagegen geklagt hatten, konnten schließlich die ihnen zustehenden Beihilfen erhalten, sofern sie die vorgeschriebenen Kriterien erfüllten, wie z. B. die Arbeitsdauer für Grenzgänger*innen in Luxemburg. Es ist jedoch nicht alles geregelt, so auch die Frage, ob die Studienbeihilfe und die Wohnbeihilfe, die Studierende von dem Land erhalten, in dem sie für ihr Studium wohnen, nicht kumuliert werden dürfen. Diese Kumulierung ist für Ansässige erlaubt, für Grenzgänger*innen jedoch verboten. Mehrere hundert Fälle bleiben bis zu einem möglichen Eingreifen der Europäischen Kommission ungelöst.
Soziale und steuerliche Missgeschicke
Einige Grenzgänger*innen leiden unter den Folgen der Reform des Kindergeldes, die am 1. August 2016 in Kraft trat: Sie erhielten für das Kind oder die Kinder ihres*ihrer Ehepartners*in, der*die nicht im Großherzogtum arbeitet, keine Zulagen mehr. Der Fall kam vor die Sozialgerichte und wurde im April 2020 vom Europäischen Gerichtshof eindeutig entschieden. Es war nicht überraschend, dass der Gerichtshof die luxemburgische Reform als diskriminierend gegenüber Grenzgänger*innen zurückwies.
Vanessa Correia
Dennoch ist es für eben diese schwierig, vor den Sozialgerichten zu ihrem Recht zu kommen. „Die Zukunftskasse (Caisse pour l'avenir des enfants, kurz CAE, d. Red.) hat das vom EuGH angesprochene Kriterium – wonach der Grenzgänger für den Unterhalt des Kindes seines Ehepartners sorgen muss, um luxemburgisches Kindergeld zu erhalten – aufgegriffen und verlangt nun systematisch Belege über die Einkünfte und Lasten der biologischen Eltern des Kindes“, berichtet Pascal Peuvrel, Anwalt am Gerichtshof, der sich sehr aktiv für die Verteidigung der Rechte der Grenzgänger*innen einsetzt. „Das ist niederträchtig und eine restriktive Auslegung des EuGH-Urteils.“ Er hat nun in einem Fall Berufung eingelegt, nachdem er in der ersten Instanz vor dem Schiedsrat für soziale Sicherheit gewonnen hatte und in der Berufung vor dem Hohen Rat für soziale Sicherheit abgewiesen wurde.
Hinzu kommen weitere Hindernisse, mit denen nur die Grenzgänger*innen konfrontiert sind. „Der LCGB wird von seinen Grenzgänger-Mitgliedern viel um Rat gefragt, wenn es um Fragen rund um das Thema Steuern geht“, sagt Vanessa Correia, Gewerkschaftssekretärin und zuständig für Sozialpolitik beim LCGB. „Ein konkretes Beispiel betrifft verheiratete Grenzgänger, die eine Steuersimulation anfordern, um zu sehen, ob eine Besteuerung in der Steuerklasse 1 oder mit dem auf Grundlage der Steuerklasse 2 definierten Gesamtsatz günstiger ist.“ Denn seit der 2017 angekündigten Steuerreform fallen verheiratete Grenzgänger*innen nicht mehr automatisch in die Steuerklasse 2.
„Mehrere spezifische Aspekte der Grenzgänger kommen zu den Problemen hinzu, die sie mit den Ansässigen teilen, wie z.B. solche, die mit dem Arbeitsrecht zusammenhängen (Entlassung, Lohnrückstände …)“, erklärt Jacques Delacollette, Zentralsekretär, der beim OGBL für die Koordination der Grenzgänger*innensektionen zuständig ist. „Wenn zum Beispiel eine Person, die in Luxemburg und Belgien gearbeitet hat, in Luxemburg eine Invaliditätspension zugesprochen bekommt, muss sie sechs Monate warten, bis ihre Akte in Belgien geschlossen ist, um den belgischen Teil zu erhalten – andersrum dauert es fast ein Jahr. Es ist unglaublich, dass dies so abläuft, obwohl die Datenübermittlung mittlerweile so schnell erfolgt. Und das bringt die Menschen in Schwierigkeiten.“
„Wir sind die Stimme der Grenzgänger im Gesetzgebungsverfahren.“
Sylvain Hoffmann, Direktor der Arbeitnehmerkammer (CSL)
Belgische Grenzgänger*innen müssen seit einigen Jahren auch unter dem übertriebenen Eifer der belgischen Steuerbehörde bei der Jagd nach maskierten Arbeitnehmer*innen leiden. „Einige haben es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden Tag ihr Sandwich oder ein Getränk mit ihrer Visa-Karte zu bezahlen, um einen Nachweis über ihren Aufenthalt in Luxemburg zu bekommen“, fährt Delacollette fort. „Ich kenne einen aktuellen Fall: Das Finanzamt ging fünf Jahre zurück und verlangte 18.000 Euro Nachzahlung von einem Grenzgänger. Dieser musste vor Gericht gehen, weil das Finanzamt seine Belege nicht berücksichtigen wollte.“
Die Grenzgänger*innen der drei Nachbarländer sind ebenfalls auf zwischenstaatliche Diskussionen bezüglich Homeoffice angewiesen. „Seit Beginn der Pandemie haben sich die Fragen zu Homeoffice, genauer gesagt zu den von den Grenzländern angewandten Toleranzgrenzen, und zu den Koordinierungsregeln in Bezug auf die Sozialversicherung vervielfacht“, betont Correia. „Die Toleranzgrenze wurde für französische und belgische Grenzgänger von 24 auf 34 Tage angehoben, aber Deutschland bleibt bei 19 Tagen“, ergänzt Delacollette.
Ein Fortschritt, der im Zuge der Gesundheitskrise erzielt wurde, während der alle Arbeitnehmerinnen*, die dazu in der Lage waren, on zu Hause arbeiten mussten, der aber immer noch als unzureichend angesehen wird. „Diese Vereinbarungen sind heterogen und liegen immer noch unter dem möglichen Maximum von 55 Tagen pro Jahr, die Grenzgänger arbeiten könnten, ohne die 25 Prozent-Grenze für die Sozialversicherung zu überschreiten“, erklärt Correia. „Dies hat insbesondere Anfang 2021 viel Schaden im Transportsektor verursacht, in dem viele Fahrer von einem Tag auf den anderen in Luxemburg abgemeldet wurden.“
Jean-Jacques Rommes & Daniel Becker
Angesichts des Drucks der Gewerkschaften hält sich die Regierung bedeckt. „Wir werden gebeten, nicht zu militant zu sein und den politischen Verhandlungen ihren Lauf zu lassen“, kommentiert Roberto Mendolia, Vorsitzender der Bankengewerkschaft Aleba. „Aber die Probleme bleiben bestehen. Wir müssen klarstellen, dass einem Grenzgänger, der sich eine Stunde von zu Hause aus einloggt und dann zur Arbeit nach Luxemburg fährt, dies bereits als Homeoffice-Tag angerechnet wird.“ Das Thema habe keine Priorität, bedauert Delacollette. „Bei den Gipfeln der Großregion sagen die Politiker, dass man zusammenarbeiten muss, aber sie vergessen das sofort wieder, wenn sie in ihre Büros zurückkehren.“
Die Gewerkschaften stehen bei der Beratung und Begleitung der Grenzgänger*innen an vorderster Front: Die Sektionen des OGBL und die seines Partners LGTB in Arlon haben 2019 mehr als 10.000 Grenzgänger*innen empfangen – und das nur an der belgischen Grenze. Man muss auch sagen, dass sie zwischen 40 und 50 Prozent der Mitglieder der Gewerkschaften ausmachen – sehr wenige davon findet man in den Führungsgremien wieder. Das ist schon lange so, aber erst 2010, als es um die Reform der Stipendien ging, sind die Gewerkschaften auf die Barrikaden gegangen, um die Interessen der Grenzgänger*innen offen zu vertreten. Die Regierung setzte sich darüber hinweg.
Bewusst ignorierte Ideen
„Jegliche Probleme der Grenzgänger werden immer wieder vor den Politikern zur Sprache gebracht, sei es bei Gesprächen mit den verschiedenen Ministern oder über die Vertreter des Wirtschafts- und Sozialrats von Luxemburg und des Rates der Großregion“, versichert Delacollette. „Wir werden uns auch mit führenden Politikern in den Grenzländern treffen. Aber es gibt immer ein dringenderes Problem.“
Dabei mangelt es den Gewerkschaften nicht an konstruktiven Ideen. „Es ist eine Schande, dass es immer noch keine Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Brüssel und Luxemburg gibt“, meint Mendolia, der seit zwölf Jahren Fahrgemeinschaften von Lüttich aus hinter sich bringt. „Und die Straßeninfrastruktur ist nicht angepasst: Mit dem Aufschwung [nach der Pandemie] höre ich, dass der Verkehr noch schlimmer geworden ist als vorher. Warum hat man die Nordautobahn bei Ettelbrück gestoppt? Warum wird kein großer Ring mit Arlon und Deutschland angelegt? Die Lösungen sind vorhanden und laufen über politische Entscheidungen wie die Erleichterung des Homeoffice.“ Die Gewerkschaften werden jedoch ins Abseits gedrängt, wenn das Thema den arbeitsrechtlichen Rahmen sprengt.
„Wir haben uns immer nur auf die juristische Arbeit beschränkt, wir müssen nun in die politische Dimension übergehen.“
Georges Gondon, Gründer von Solidarité Frontaliers Européens
Wer sonst könnte die Stimme der Grenzgänger*innen vertreten? Die Arbeitnehmerkammer hat sich seit einigen Jahren auf ihre Weise in den Kampf gestürzt und zählt immer mehr Grenzgänger*innen zu ihren Mitgliedern. „Wir sind von nur fünf Grenzgängern in der Vollversammlung im Jahr 2009 auf sieben im Jahr 2013 und 17 im Jahr 2019 gestiegen“, betont Hoffmann. Das sind 28 Prozent der Mitglieder, „dabei haben wir zwei Sektoren mit sehr wenigen Grenzgängern: die CFL und die Rentner. Wir sind die Stimme der Grenzgänger im Gesetzgebungsverfahren“, meint er. „Wir arbeiten eng mit den Gewerkschaften zusammen. Wir sind nicht immer an der Front, sondern agieren eher als Back-Office, indem wir die Ordner im Rahmen unserer Stellungnahmen zu den Gesetzesentwürfen analysieren. Die Gewerkschaften übernehmen dann die politische Ebene.“
Das bedeutet nicht, dass die CSL in ihren Stellungnahmen ein Blatt vor den Mund nimmt. Ob es sich um die Steuerreform von 2017 handelt, die die Behandlung von Grenzgänger*innen reformierte, oder rezent um den vom Ministerium für Familie und Integration ausgearbeiteten Gesetzentwurf zum Kindergeld, die CSL weist unmissverständlich auf die problematischen Punkte hin. „Die CSL ist empört darüber, dass der Gesetzgeber einen Text vorlegen kann, der so schädlich für den sozialen Zusammenhalt ist, der die Gefahr birgt, die Ressentiments zwischen Ansässigen und Nichtansässigen zu schüren und dem Image des Landes zutiefst schadet“, so die CSL in ihrer letzten Stellungnahme.
„Das Grenzgängerphänomen wird von Amts wegen in unsere Überlegungen zu Steuer- und Sozialversicherungsprojekten einbezogen und generell achten wir darauf, dass keine Maßnahmen ergriffen werden, die zum Nachteil für Grenzgänger werden können oder für Ansässige vorteilhaft, für Grenzgänger aber unzugänglich sind“, so Hoffmann.
Jacques Delacollette
Auch der Wirtschafts- und Sozialrat (CES) ist stolz darauf, auf die Probleme von Grenzgänger*innen aufmerksam zu machen, auch wenn seine Zusammensetzung in dieser Hinsicht nicht repräsentativ ist. „Es ist Sache der Organisationen, die die Mitglieder ernennen, dafür zu sorgen, dass ihre Vertreter die Vielfalt der Arbeitswelt widerspiegeln“, erklärt Jean-Jacques Rommes, Vizepräsident des CES. Die Mitglieder dieses dreigliedrigen Organs kommen nämlich tatsächlich aus den Organisationen, die die Arbeitnehmer*innen (Angestellte und Beamt*innen) vertreten, aus den Organisationen, die sich für die Rechte der Unternehmen, die Liberalen und die Landwirt*innen einsetzen, und schließlich aus der Verwaltung. „Die Hälfte der Beschäftigten in den Unternehmen sind Grenzgänger, also kann man sagen, dass die Berufskammern, die die Unternehmen vertreten, zwangsläufig auch die Interessen der Grenzgänger vertreten. Wir sind somit die einzige Institution im Land, die nicht nur die Luxemburger und Ausländer, sondern auch die Grenzgänger vertritt.“
Als Zeichen seines Interesses hatte der CES im Januar 2020 eine viel beachtete Stellungnahme zur grenzüberschreitenden Arbeit veröffentlicht, in der es dessen Ausmaß und die damit verbundenen Herausforderungen ausführlich darlegte. Er warnte insbesondere vor einer latenten Spaltung und beklagte die Unsichtbarkeit der Grenzgänger*innen in der öffentlichen Sphäre. „Diese Unterschiede in der sektoralen Vertretung machen deutlich, dass unsere politischen Entscheidungsträger besonders sensibilisiert werden müssen, um eine zu starke künstliche Segregation zwischen ortsansässigen oder sogar luxemburgischen Arbeitnehmern und Grenzgängern zu vermeiden und stattdessen den bestmöglichen sozialen Zusammenhalt zu fördern”, argumentierte er.
Zwei Jahre später entwickelte Rommes die Gedanken des Ausschusses, der diese Stellungnahme verfasste und dessen Vorsitzender er war, weiter: „Wir haben in Wirklichkeit mehrere Probleme mit der demokratischen Repräsentation auf gesamtstaatlicher Ebene. Erstens, weil die Luxemburger wählen und im öffentlichen Dienst die große Mehrheit bilden, während die Ausländer im privaten Sektor in der Mehrheit sind. Und zweitens, weil wir Sektoren haben, die voller Grenzgänger sind, und andere, in denen es nur sehr wenige gibt. Natürlich wäre es im Interesse einer größeren Durchmischung besser, in allen Sektoren etwas mehr Proportionalität zu haben, um ein wirtschaftliches Risiko zu vermeiden“, als Luxemburg befürchtete, dass seine Nachbarländer Grenzgänger*innen als Pflegekräfte für ihre eigenen Krankenhäuser requirieren würden.
„Für das neue Integrationsgesetz werden wir vorschlagen, dass dem CNE drei Grenzgänger angehören, einer aus jedem Nachbarland.“
Munir Ramdedovic, Vorsitzender des Nationalen Ausländerrates (CNE)
Es gibt noch ein anderes Organ, das ebenfalls dazu berufen wäre, die Grenzgänger*innen zu vertreten: der Nationale Ausländerrat (CNE), der 1993 gegründet wurde und seit mindestens 15 Jahren über einen Grenzgänger*innenausschuss verfügt. Der Grenzgänger*innerat, der durch seine schwerfällige Arbeitsweise – die unter anderem ein Quorum von 75 Prozent pro Plenarversammlung vorschreibt – und durch die schwankende Anwesenheit seiner Mitglieder belastet wird, hat Höhen und Tiefen erlebt, scheint aber seit einigen Jahren wieder auf einem guten Fundament zu stehen. So hat er unter anderem eine Stellungnahme zum Homeoffice ab 2019 abgegeben, in der er einen Grenzwert von 56 Tagen pro Jahr für Grenzgänger*innen vorschlägt.
Und sein Vorsitzender, Munir Ramdedovic, macht keinen Hehl aus seinen Ambitionen. „Für das neue Integrationsgesetz werden wir vorschlagen, dass dem CNE drei Grenzgänger angehören, einer aus jedem Nachbarland“, während die Wahl bislang nur den Ansässigen vorbehalten ist. „Die Grenzgänger nehmen einen wichtigen Platz in der luxemburgischen Wirtschaft ein. Und wir sind uns bewusst, dass die Rechte von Grenzgängern und Ansässigen nicht ganz dieselben sind.“ Ab Januar wird der CNE drei Expert*innen ernennen, die im CNE einen Sitz erhalten werden oder sogar „Themen auf den Tisch bringen können, die die Grenzgänger betreffen“.
In der politischen Sphäre unhörbar
Es wäre also nicht korrekt zu sagen, dass die Probleme der Grenzgänger*innen bei den Organen, die die Arbeitnehmer*innen, die Unternehmen oder die Ausländer*innen vertreten, nicht ankommen. Dennoch gibt es keine identifizierte Stimme, die für sie spricht. Dies hat die Handelskammer bereits 2012 in ihrer Mitteilung Actualité & tendances n°12 mit dem Titel: Le rayonnement transfrontalier de l'économie luxembourgeoise: la diversité règne, l'intégration piétine (Die grenzüberschreitende Ausrichtung der luxemburgischen Wirtschaft: Die Vielfalt herrscht, die Integration kommt abenur langsam voran) festgestellt. Die Berufskammer, deren Mitgliedsunternehmen 90.000 Personen beschäftigen und 80 Prozent des BIP ausmachen, widmete eine ganze Seite dieser mangelnden Vertretung der Grenzgänger*innen. „Die Handelskammer war der Ansicht, dass die öffentlichen Behörden dem Grenzgängerphänomen trotz seines Ausmaßes noch zu wenig Aufmerksamkeit schenken“ und beklagte, dass „die Grenzgänger kaum als homogene soziale Gruppe strukturiert sind“.
Munir Ramdedovic
Sie schlug vor, dass die Regierung die Dinge selbst in die Hand nimmt und beispielsweise ein „Grenzgängerkommissariat einrichten sollte, das sich speziell mit den Problemen der Grenzgänger befassen würde“. Sie erwähnte zusätzlich noch „Konsultationen zu Themen, die die Grenzgänger direkt betreffen (Verkehrsinfrastrukturen, Behördengänge, Umwelt usw.)“. Die Idee wurde nicht erneut aufgegriffe, und doch ist sie immer noch aktuell, fügt Carlo Thelen, Generaldirektor der Handelskammer, hinzu. „Seitdem wurden viele Investitionen getätigt, insbesondere die Straßenbahn, die nicht unbedingt den Grenzgängern zugutekommt, es sei denn, sie kommen aus dem Süden nach Kirchberg, aber auch die Park-and-Ride-Parkplätze an der Grenze und das Projekt einer Straßenbahn bis nach Esch. All dies kommt nur langsam und unter Druck der Grenzgänger voran.“
Und nicht alle Ideen stoßen auf Einstimmigkeit. „Die Regierung denkt über Coworking Spaces an den Grenzen nach, um den Grenzgängern die letzten zehn Kilometer bis zu ihrem Unternehmen zu ersparen, aber viele Mitglieder der Handelskammer haben gemischtes Interesse gezeigt. Einige ziehen es vor, alle ihre Mitarbeiter vor Ort zu haben, um sich auszutauschen und die bereichsübergreifende Zusammenarbeit zu fördern. Andere machen es wie die Big4.“ Carlo Thelen seinerseits erwähnt in seinem Blog mehrere Unternehmen, die bereit wären, auf ihrem Gelände Wohnungen einzurichten, um dort Arbeitnehmer*innen mit subventionierten Mieten unterzubringen. „Das könnte sowohl das Wohnungsproblem für Arbeitnehmer im Allgemeinen als auch das Mobilitätsproblem von Grenzgängern lösen, die nicht mehr gezwungen wären, stundenlange Autofahrten auf sich zu nehmen.“
Zwar hat die Pandemie die Ansässigen brutal daran erinnert – oder ihnen die Augen geöffnet –, dass es die Grenzgänger*innen sind, die die luxemburgische Wirtschaft am Laufen halten, und Premierminister Xavier Bettel hat den Grenzpflegekräften seine Hochachtung gezollt. Einige Abgeordnete sprachen sogar von „Helden“. „Beim CES waren wir uns vor der Pandemie sehr wohl bewusst, dass die Grenzgänger für das Land absolut wichtig sind“, betont Rommes, ehemaliger Direktor der Vereinigung der Banken und Bankiers (ABBL) und des Unternehmerverbands (UEL). „Ich glaube und hoffe, dass sich der Diskurs auch nach außen hin verändert hat. Das hat auch die Reden, die man gehört hat, dass es zu viel Wachstum gebe und dass die Grenzgänger die Straßen verstopfen, in die richtige Perspektive gerückt.“
„Wir sind die einzige Institution im Land, die nicht nur die Luxemburger und Ausländer, sondern auch die Grenzgänger vertritt.“
Jean-Jacques Rommes, Vizepräsident des Wirtschafts- und Sozialrates (CES)
Allerdings war dieser Sprung nicht von Dauer, da die Abgeordneten sich nicht gegen den Gesetzentwurf zum Kindergeld ausgesprochen haben, der von Corinne Cahen, der Familienministerin und Ministerin der Großregion, vorgelegt wurde. Der Gesetzentwurf soll die diskriminierenden Klauseln der Reform von 2016 beseitigen, schlägt aber einen kompletten Paradigmenwechsel vor, der letztendlich zum gleichen Ergebnis führt: Ausschluss von Kindern aus Patchwork-Familien, die von einem Grenzgänger oder einer Grenzgängerin abhängig sind. Das Gesetz wurde im Mai im Regierungsrat verabschiedet, am 1. Juni eingereicht und befindet sich im Gesetzgebungsverfahren – die Arbeitnehmer- und Beamtenkammern haben die fortgesetzte Diskriminierung von Kindern von Grenzgänger*innen bereits in ihren jeweiligen Stellungnahmen angeprangert. „Wir hatten die Hoffnung, dass die Gesundheitskrise etwas ändern würde, aber dieser Gesetzentwurf fährt gerade auf eine Wand zu und die Grenzgänger werden sich wieder vor Gericht wiederfinden müssen“, empört sich Delacollette.
Diese erneute Feststellung des Scheiterns veranlasst einige dazu, sich eine andere Form der Vertretung für vorzustellen. Georges Gondon von der belgischen Vereinigung Solidarité Frontaliers Européens und Pascal Peuvrel, Präsident der Association des frontaliers au Luxembourg (Afal) auf französischer Seite, hatten bereits während des langen Kampfes gegen die Reform der Studienbeihilfen die europäisch-wirtschaftliche Interessenvereinigung Frontaliers Européens in Luxemburg mitbegründet. Gondon möchte noch einen Schritt weiter gehen. „Es ist ein Rückzug der einzelnen Staaten auf sich selbst festzustellen. Die Staaten loben Europa, aber jeder wendet sich an seine Wählerschaft. Im Jahr 2010 erklärte Jean-Claude Juncker offen, dass er keine Stipendien exportieren wolle, weil das teuer sei. Seitdem wird die gleiche Logik mit der Reform des Kindergeldes von 2016 fortgesetzt, die die nicht biologischen Kinder von Grenzgängern ausschließt.“ Er kritisiert die Haltung der Regierung, die „Zeit gewinnt“, wenn Fälle mehrere Monate warten, bis sie vor Gericht oder sogar vor dem EuGH landen.
„Ich stelle fest, dass wir uns immer nur auf die juristische Arbeit beschränkt haben und dass wir zu einer politischen Dimension übergehen müssen. Es gibt keine offizielle Struktur, die die Grenzgänger vertritt. Niemand spricht über die Besonderheiten der Grenzgänger, wie die Organisation der Kinderkrippen, die Dienstleistungsschecks, die gemeinsame Entwicklung, die Unvereinbarkeit der Beförderungstarife …“ Themen, bei denen Grenzgänger*inne nicht gehört werden. „Als das Urteil des EuGHs zum Kindergeld fiel, habe ich darum gebeten, von der Ministerin empfangen zu werden. Es waren schließlich die Leiterin der CAE und der erste Regierungsberater der Ministerin, mit denen ich mich getroffen habe. Jeder legte seinen Standpunkt dar und sie blieben bei ihrer Position.“
Das Risiko der Uneinigkeit
Der nächste Schritt ist also ein Verein nach luxemburgischem Recht, der den Stempel Grenzgänger*innen trägt, mit dem Ziel, der bevorzugte Ansprechpartner für die Themen zu werden, die für diese Arbeitnehmer*innen spezifisch sind. Das Modell ist nicht neu: In der Schweiz werden Grenzgänger*innenvereinigungen regelmäßig zu Gesprächen und sogar Verhandlungen mit den Verwaltungen und politischen Vertreter*innen der Kantone empfangen.
Die anderen Vertretungen der Arbeitnehmer*innen in Luxemburg sind jedoch nicht unbedingt begeistert von dieser Idee. „Ich glaube nicht, dass das wirklich notwendig ist“, sagt Correia. „Brauchen wir dann auch einen speziellen Rat für die Ansässigen? Das wird mehr Polemik erzeugen als sonst was. Meiner Meinung nach werden die Interessen der Grenzgänger in Luxemburg durch die verschiedenen Gewerkschaften gut verteidigt und vertreten.“ Und sie betont, dass sich die Mobilisierung des LCGB zur Zeit der Steuerreform ausgezahlt habe: Das Finanzministerium hatte die Schwelle für nicht-luxemburgische Einkünfte geändert, die nicht überschritten werden durfte, damit ein*e Grenzgänger*in in der Steuerklasse 2 bleiben konnte.
„Ich glaube nicht, dass das die Lösung ist“, pflichtet Delacollette bei. „Es ist besser, alle zusammenzubringen und nicht eine Spaltung zu schaffen, die dazu führen wird, dass jeder für sich arbeitet.“ Er erinnert im Übrigen daran, dass in den Augen des OGBL „man nur eine einzige Gewerkschaft haben sollte“, um „seine Energie für die Verteidigung der Arbeitnehmer zu sparen, anstatt für die Sozialwahlen“, bei denen „jeder zeigen will, dass er besser ist als die anderen“.
Roberto Mendolia
Aleba teilt die Zurückhaltung seiner Kollegen. „Eine Gewerkschaft, die nur aus Grenzgängern besteht, tut sich selbst keinen Gefallen“, meint Mendolia. „Und eine Grenzgängergewerkschaft wird nicht denselben politischen Resonanzboden haben“, fügt Jean-Philippe Mansard von der Grenzgänger*innenkommission der Aleba hinzu. Die drei Gewerkschaften heben auch ihre jeweilige Annäherung an deutsche, belgische und französische Gewerkschaften hervor, um ihren Kampf besser zu koordinieren.
Die CSL ist weniger politisch, würde aber die Schaffung einer entsprechenden Kammer oder einer Gewerkschaft nicht begrüßen. „Ich denke, das wäre kontraproduktiv“, kommentiert Hoffmann. „Das würde zu Spaltungen zwischen Arbeitnehmern führen, die doch eigentlich die gleichen Interessen haben. In der CSL kommt es nie vor, dass man hört, dass die Ansässigen gegen diesen oder jenen Passus in einem Gesetz sind. Es ist wirklich wichtig, geeint zu bleiben.“
„Das sind Probleme, mit denen die Grenzgänger täglich zu kämpfen haben und die die Ansässigen nicht auf dem Schirm haben.“
Jacques Delacollette, Zentralsekretär beim OGBL
Auf der Seite der CES sieht es nicht anders aus. „Ich halte das für eine schlechte Idee“, meint Rommes. „Viele Probleme der Grenzgänger sind Probleme für alle. Wenn Straßen gebaut werden müssen, gehört das zu den Diskussionen über den Staatshaushalt, über die Raumplanung … Das sind Dinge, die man gemeinsam und nicht getrennt diskutieren muss.“
Die Gleichung ist nicht einfach: Sicherlich könnten Grenzgänger*innen darunter leiden, dass ihre Schwierigkeiten nicht ausreichend berücksichtigt werden. Steuern, erschwerte Behördengänge, Diskriminierung: „Das sind Probleme, mit denen die Grenzgänger täglich zu kämpfen haben und die die Ansässigen nicht auf dem Schirm haben“, betont Delacollette. Haben sie deshalb mehr Gemeinsamkeiten mit ihren Nachbar*innen im Zugwaggon oder Stau als mit ihren Arbeitskolleg*innen?
Sylvain Hoffmann
Hinter dieser Debatte stehen andere Herausforderungen, die den Ausgang verändern könnten. Die demografische Entwicklung des Landes könnte dazu führen, dass die Politik schneller auf die Grenzgänger*innen eingeht, da immer mehr Luxemburger*innen unter ihnen sind. „Es ist traurig, wenn ein Land seine Einwohner nicht mehr empfangen kann“, kommentiert Mansard. „Es ist ein Exodus. Wir schaffen uns Grenzgänger.“ Er selbst sei in dieser Situation. Grenzgänger*innen, die in diesem Fall das Wahlrecht haben. Und die noch zahlreicher werden könnten, wenn der Gesetzesentwurf über Hypothekarkredite angenommen wird, der darauf abzielt, für jeden Immobilienerwerb eine beträchtliche Einlage zu verlangen. „Es geht darum, das Risiko eines Zahlungsausfalls zu begrenzen, aber wer kann heute angesichts des Preisanstiegs zehn oder sogar 20 Prozent des Preises für eine Wohnung in bar vorstrecken?“, betont Mendolia. „Das würde im Gegenteil die Zahl der Hausbesitzer noch weiter einschränken und das Land zwingen, die Inflation genau zu kontrollieren, wie es in Deutschland der Fall ist, um einen Mietpreisanstieg zu verhindern.“
Und dann hat der durch die Pandemie erzwungene Stopp auch noch einen Schock unter den Grenzgänger*innen ausgelöst. „Einige rechnen nach und sagen sich, dass sie, wenn sie in der Nähe ihres Wohnortes arbeiten, zwei Stunden weniger Transportzeit und eine bessere Lebensqualität haben, und das für manchmal nur 500 Euro weniger.“ Eine gute Nachricht für Lothringen, Wallonien oder die angrenzenden Bundesländer, aber nicht für die luxemburgische Wirtschaft, die immer noch nach Arbeitskräften giert. „Ohne die Grenzgänger würde die Wirtschaft wie ein Kartenhaus zusammenbrechen“, erinnert Delacollette.
Ob sie es will oder nicht, die Welt der Politik hat keine andere Wahl als sich dieser komplexen, aber für die Zukunft des Landes entscheidenden Problematik in vollem Umfang bewusst zu werden – und sie wird sicherlich nicht dadurch gelöst werden, dass weiterhin ein Teil der Sozialbeitragszahler*innen zugunsten eines anderen benachteiligt wird.