Einander zuhören (Retro 6/12)

Von Melody Hansen

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Die Journal-Redaktion blickt auf 2021 zurück - heute mit Melody Hansen. Die vergangenen zwölf Monate waren aufregend, herausfordernd und bereichernd und bedeuten gleichzeitig unseren ersten, digitalen Geburtstag. Zu diesem Anlass hat sich jedes Teammitglied den Beitrag ausgesucht, dessen Recherche oder Produktion sie oder ihn 2021 am meisten geprägt hat.

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„Um […] einander zu akzeptieren, muss man sich gegenseitig verstehen.“ Das sagte Wafaa Abo Zarifa während unseres sehr emotionalen Interviews im Sommer. Die junge Frau ist vor sechs Jahren aus dem Gazastreifen in Palästina nach Luxemburg geflüchtet und erzählte, wie sie die elf Tage im Mai 2021, an denen Palästinenser*innen und Israel*innen sich brutal bekämpften, erlebt hat. Kurze Zeit später sprach ich auch mit Farah Livneh über die Ereignisse. Sie wurde in Israel geboren, ist in Luxemburg aufgewachsen und lebt inzwischen wieder in Israel. Sie hatte zu Beginn Angst, öffentlich über den „Konflikt“ zwischen Israel und Palästina, der sie bereits ihr Leben lang begleitet, zu sprechen. Sie befürchtete, zu sehr für oder gegen eine bestimmte Seite zu argumentieren und dafür von der jeweils anderen Seite angegriffen zu werden. Am Ende entschied sie sich dafür, ihre Geschichte zu erzählen. „Denn wenn niemand darüber spricht, weil niemand sich traut, bleibt viel Platz für extreme Meinungen“, sagte Faran.

Beim Lëtzebuerger Journal war es uns von Anfang an wichtig, Menschen und ihre Geschichten in den Fokus zu stellen. Ich bin der Meinung, dass Journalismus die Kraft hat, Verständnis und Mitgefühl in anderen auszulösen. Durch unsere Arbeit können wir Menschen Lebensrealitäten eröffnen, mit denen sie sonst vielleicht nie in Kontakt gekommen wären. Das Lesen eines Artikels kann dem Lesenden dabei helfen, Entscheidungen nachzuvollziehen, die er oder sie selbst nie treffen musste. In unseren Artikeln sagen Menschen nicht nur ihre Meinung, sondern sie erzählen auch, wie sie zu dieser gekommen sind. Dabei spielt ihre Biographie mit allen Schicksalsschlägen und Höhepunkten eine große Rolle. Genauso ist es auch bei Wafaa und Faran – zwei Frauen, die nichts anderes wollen, als mit ihrer Familie in Sicherheit zu leben und die trotz unterschiedlicher Ansichten eines verbindet: Sie verurteilen einander nicht. Beide engagieren sich für die Friedenskonsolidierung auf lokaler Ebene, indem sie Palästinenser*innen und Israel*innen zusammenbringen, um ihre Differenzen zu überwinden.

„Durch unsere Arbeit können wir Menschen Lebensrealitäten eröffnen, mit denen sie sonst vielleicht nie in Kontakt gekommen wären.“

Sie haben es nicht aufgegeben im Dialog zu bleiben, einander zuzuhören und verstehen zu wollen. Eigenschaften, die besonders in der heutigen Zeit wichtiger sind denn je. In einer Zeit, in der Hassrede – vor allem online – an der Tagesordnung steht. In der immer mehr Politiker*innen und andere Personen des öffentlichen Lebens offen darüber sprechen, wie schwer der Hass zu ertragen ist, der ihnen entgegengebracht wird und in der einige ihr Amt aus gesundheitlichen Gründen frühzeitig aufgeben.

Seit nun mehr einem Jahr nehmen wir uns beim Lëtzebuerger Journal Zeit. Ein kostbares Gut in einer Gesellschaft, in der Nachrichten sich überschlagen und wir uns alle manchmal überfordert von all dem fühlen. Wir nehmen uns Zeit, Menschen zuzuhören, sie zu verstehen und ihre Gedanken in ein Großes Ganzes einzuordnen. Wir versuchen Einblicke in Leben zu bekommen, die nicht die unseren sind. Damit wir uns am Ende alle ein wenig mehr Verständnis entgegenbringen – und der Hass ein bisschen weniger wird.

Faran Livneh