„Wenn niemand darüber spricht, bleibt viel Platz für extreme Meinungen“

Von Melody HansenLex Kleren

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Faran Livneh wurde in Israel geboren und ist in Luxemburg aufgewachsen. Seit knapp vier Jahren lebt die junge Mutter wieder in Israel. Dort engagiert sie sich für den Frieden zwischen Israeli*nnen und Palästinenser*innen. Im Interview spricht Faran darüber, wie sie die Spannungen als Jugendliche wahrgenommen hat, wie sie die Bombenangriffe im Mai 2021 erlebt hat und warum sie daran glaubt, dass dauerhafter Frieden möglich ist.

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Der israelisch-palästinensische „Konflikt“ hat einen neuen Höhepunkt erreicht: Was als Proteste gegen die Vertreibung palästinensischer Familien im israelisch besetzten Ost-Jerusalem begann, eskalierte zu Ausschreitungen und schließlich zur Stürmung des Al-Aqsa-Geländes, der drittheiligsten Stätte des Islam, durch israelische Sicherheitskräfte. Proteste und Gegenproteste weiteten sich bald auf verschiedene Städte in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten aus. Der al-Aqsa-Vorfall wurde für die Terrorgruppe Hamas zum Auslöser, um vom Gazastreifen aus Tausende von Raketen auf Israel abzufeuern. Dies löste an elf Tagen im Mai eine militärische Reaktion Israels aus, bei der allein im Gazastreifen mindestens 13 Israelis und 256 Palästinenser getötet wurden. Tausende wurden verletzt und obdachlos, und die Aufräumarbeiten dauern in Erwartung eines möglichen neuen Krieges noch an.

Auch wenn die meisten der Tausenden von Raketen, die aus dem Gazastreifen abgefeuert wurden, vom israelischen Raketenabwehrsystem Iron Dome abgefangen wurden, trafen sie mit ihrer beispiellosen Reichweite Orte, die normalerweise von der Realität der Besatzung weiter entfernt sind. Beide Seiten wurden wegen des Einsatzes von wahllos abgefeuerten Raketen und der unverhältnismäßigen Gewaltanwendung gegen zivile Infrastruktur und Menschenleben wegen möglicher Kriegsverbrechen angeklagt. Neben dem anhaltenden Trauma für Israeli*nnen und Palästinenser*innen und der schleichenden Gewalt der Blockade des Gazastreifens, die das Leben in diesem Gebiet nahezu unerträglich macht, bleibr eine politische Lösung nach wie vor schwer fassbar. Die zugrundeliegenden Spannungen im Zusammenhang mit der Räumung des Stadtviertels Sheikh Jarrah sind nach wie vor ungelöst, ebenso wie die meisten Verhandlungen zwischen den Parteien und die fehlenden Fortschritte bei einer Zwei-Staaten-Lösung. Hardliner auf beiden Seiten setzen ihre Provokationen fort, die zu neuen Gewaltausbrüchen führen können.

Um die menschliche Seite und die Auswirkungen dieser Ereignisse zu verstehen, sprachen wir mit Wafaa, einer palästinensischen Geflüchteten aus dem Gazastreifen in Luxemburg, und Faran, einer israelisch-luxemburgischen Frau, die in Israel lebt. Beide engagieren sich für die Friedenskonsolidierung auf lokaler Ebene, indem sie Palästinenser und Israelis zusammenbringen, um ihre Differenzen zu überwinden. Ihre Lebensgeschichten verraten viel darüber, wie der „Konflikt“ jenseits abstrakter Statistiken über Tod und Leid aussieht.

Lëtzebuerger Journal: Sie wurden in Israel geboren und sind in Luxemburg aufgewachsen. Erzählen Sie uns davon.

Faran Livneh: Mein Vater ist Israeli und meine Mutter ist Luxemburgerin. Nachdem sie sich in Israel kennengelernt und geheiratet haben, lebten sie kurz in Luxemburg, wo meine große Schwester zur Welt kam. Danach sind sie nach Israel gezogen, wo ich dann geboren wurde. Als ich zweieinhalb Jahre alt war, haben meine Eltern sich scheiden lassen und ich bin mit meiner Schwester und meiner Mutter zurück nach Luxemburg gezogen. Ich bin also hier aufgewachsen und zur Schule gegangen. Während meiner Kindheit bin ich drei Mal im Jahr zu meinem Vater nach Israel gefahren. In den Weihnachts- und Osterferien und einen Monat im Sommer. Mein Vater hat nur hebräisch mit uns gesprochen, wodurch ich die Sprache perfekt beherrsche. Ich war zwar nur in den Ferien dort, habe aber sehr viel mitbekommen. Jetzt, da ich in Israel lebe, merke ich natürlich, dass das noch einmal etwas anderes ist.

„Ich hatte auch das Gefühl, je mehr ich über den ganzen Konflikt lerne, desto weniger weiß ich.“

Faran Livneh

Vor knapp vier Jahren haben Sie sich dazu entschieden, nach Israel zu ziehen. Wie kam es dazu?

Ich wusste immer, dass ich irgendwann einmal eine Zeit lang in Israel wohnen wollte, um herauszufinden, ob es mir dort gefällt. Im Juli 2017, als ich gerade in Berlin gelebt habe, ist meine Oma in Israel gestorben. Das hat mich sehr getroffen, was komisch war, weil wir nie ein besonders enges Verhältnis zueinander hatten. Ich hatte dennoch das Bedürfnis, dorthin zu fahren und an der traditionellen jüdischen Trauerzeit teilzunehmen. Davor hatte ich irgendwie immer eine Love-Hate Beziehung zu Israel. Aber als ich dieses Mal dort war, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben gespürt, dass ich zu Hause bin. Ich bin danach zurück nach Berlin gegangen, aber dort habe ich mich gefühlt, als würde ich feststecken. Also habe ich mir ohne Plan ein One-Way-Ticket nach Israel gekauft. Und dann habe ich dort den zukünftigen Vater meines Sohnes kennengelernt. Mir war dann relativ schnell klar, dass ich mit ihm zusammen in Israel leben will. Im Dezember bin ich also hergezogen, nach Jaffa, einem Stadtteil von Tel Aviv.

Sie meinten vor unserem Gespräch, dass Sie Bedenken haben, dieses Interview zu geben. Wovor haben Sie Angst?

Ich habe das Gefühl, niemand kennt in dieser Diskussion die Wahrheit. Es gibt auch nicht die eine Wahrheit. Es gibt so viele Geschichten von der einen und von der anderen Seite. Meine Angst ist, dass es so rüber kommt als würde ich zu sehr für oder gegen eine bestimmt Seite argumentieren - und dass ich dafür vielleicht von beiden Seiten angegriffen werde. Gleichzeitig finde ich es wichtig, dass darüber gesprochen und aufgeklärt wird. Dabei muss versucht werden, mit so viel Bescheidenheit wie möglich an die Sache heranzugehen. Denn wenn niemand darüber spricht, weil niemand sich traut, bleibt viel Platz für extreme Meinungen.

Sie haben vor kurzem die Facebook-Gruppe „Israeli and Palestinian Women Believing in Peace“ gegründet. Welches Ziel verfolgen Sie damit?

Ich habe mein Leben lang schon gespürt, dass ich etwas für den Frieden tun will. Ich habe mich immer betroffen gefühlt. Das geht gar nicht anders, wenn man Israeli oder Palästinenser ist, weil man auch von außen immer wieder darauf angesprochen wird. Ich musste mich schon so oft rechtfertigen. Ich erinnere mich daran, dass ich schon mit 13, als ich noch das Lyzeum besucht habe, mit zwei Jungs – beide Moslems – heftige Diskussionen hatte. Trotz der Diskussionen waren eben diese beiden Jungs lange teil meiner engsten Freunde. Und wir haben bis heute einen warmen und respektvollen Umgang miteinander. Irgendwie hat uns das Thema halt verbunden. Solche Diskussionen haben sich durch mein ganzes Leben gezogen. Mit 19 oder 20 Jahren hatte ich genug. Ich hatte auch das Gefühl, je mehr ich über den ganzen Konflikt lerne, desto weniger weiß ich. Ich spürte eine gewisse Hoffnungslosigkeit, die relativ lange anhielt.

Was war der Auslöser dafür, dass Sie wieder begonnen haben, Sich mit dem Thema auseinanderzusetzen?

Als ich in Berlin gelebt habe, kam mein Interesse langsam wieder. Ich denke, das liegt auch daran, dass Deutschland noch einmal einen anderen Bezug dazu hat. Dort hatten die Menschen, denen ich begegnet bin, oft sehr starke Meinungen. Sie waren entweder sehr Pro-Israel oder extrem Anti-Israel eingestellt. Dadurch habe ich mich wieder mehr mit der Problematik und den verschiedenen Perspektiven und Kritiken auseinandersetzen müssen. Es wurde mir zu dem Zeitpunkt auch klar: Wenn ich in Israel leben würde, könnte ich mich aktiver mit Friedensbemühungen abgeben.

Sie hatten also das Gefühl, dort leben zu müssen, um etwas zu unternehmen?

Genau. Ich hatte aber auch immer das Gefühl, wenn jemand nicht in Israel aufgewachsen ist und dort gelebt hat, ist das für Israelis ein Grund, einen nicht ernst zu nehmen. Sie sagen dann, es wäre einfach, davon zu reden, wenn man das alles nicht jeden Tag miterlebt hat. Israelis sind generell sehr defensiv, weil es eben ein sehr sensibles Thema ist.

Dabei haben Sie doch immer wieder vieles mitbekommen …

Ja. Ich erinnere mich an die erste Intifada, da war ich acht oder neun Jahre alt. Das war die Zeit, in der Busse und Restaurants in die Luft gesprengt wurden. Wir verbrachten die Ferien wie immer bei meinem Vater. Wir waren in der Stadt und ich wollte unbedingt in einem bestimmten Restaurant Spaghetti essen, meine Schwester wollte aber lieber Falafel essen. Wir haben uns gestritten, meine Schwester hat gewonnen und wir gingen Falafel essen. Ich war natürlich quengelig. Auf einmal hörten wir eine schwere Explosion und das Restaurant, in dem ich Spaghetti essen wollte, wurde in die Luft gesprengt. Dabei sind auch Kinder gestorben. Was ich hier sagen will ist: es ist nicht so, als wüsste ich nicht was es bedeutet in Israel zu leben und die Konsequenzen des Konflikts zu erleben und zu erleiden. Aber aufgrund des Feedbacks, das ich von Israelis bekam, war ich dennoch immer vorsichtig. Ich wusste, ich muss länger hier gelebt haben, um von ihnen ernst genommen zu werden.

Erste Intifada

Sie leben nun seit knapp vier Jahren dort und waren auch während der elf Tage im Mai dort, an denen Bomben gefallen sind. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Für uns kam das wie aus dem Nichts. Mir ist bewusst, dass Menschen in Gaza täglich leiden, aber für uns war die Entwicklung sehr überraschend. Vor allem in Tel Aviv leben wir in einer Art Blase. Hier ist es möglich, sein Leben zu leben und so zu tun, als wäre nichts. Auf einmal gingen mitten in der Nacht die Sirenen an. Ich war überhaupt nicht darauf vorbereitet, weil ich nicht so häufig Nachrichten schaue. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich so etwas erlebt habe. Ich wusste überhaupt nicht, was ich tun soll. Es war ein Uhr in der Nacht, ich war in meinem Zimmer und mein Sohn Ari hat geschlafen. Ich wusste nicht, ob wir einen Shelter im Haus haben, ob ich meinen Sohn wecken soll, ob ich drinnen bleiben soll. Nachdem die Sirenen erklingen, hat man nur ein paar Minuten Zeit, um sich zu entscheiden. Wer dann nicht im Shelter ist, steht schlimmstenfalls auf der Straße, wenn Bomben fallen. Das war eine heftige Situation.

Wie ging es dann weiter?

Mein Vater hat mir sofort geschrieben. Er meinte mein Schlafzimmer, in dem mein Sohn in der Nacht auch geschlafen hat, sei relativ geschützt. Es liegt ungefähr in der Mitte der Wohnung im Erdgeschoss und drum herum stehen Hochhäuser. Wenn eine Rakete geflogen käme, würde sie zuerst ein Hochhaus treffen. Also bin ich, immer wenn Raketen geflogen sind, in dem Zimmer geblieben. Ich wollte meinen Sohn nicht wecken, um ihn nicht zu traumatisieren. Es waren zwei richtig heftige Wochen.

Sie meinten, in Jaffa leben die Menschen friedlich zusammen. War das im Mai auch so?

Es stimmt, dass Juden und Palestinänsische-Araber in Jaffa friedlich zusammenleben. Deswegen wohne ich hier und mag es, hier zu wohnen. Während der Bombenangriffe gab es jedoch viele Aufstände. Araber haben Juden gelyncht und Juden haben Araber gelyncht. Meine Familie hat sich nicht aus dem Haus getraut. Ich habe mein Haus eine Woche lang kaum verlassen. Danach bin ich immer nur sehr kurz aus dem Haus gegangen, wenn es hell war, um die wichtigsten Dinge zu erledigen. Das war für mich ein Wake-up call.

Die Zusammenstöße im Mai

Ihr Wunsch, etwas zu unternehmen, wurde also wieder stärker?

Ja. Aber ich wusste nicht richtig, was ich genau tun soll. Ich habe viel mit meinem Partner darüber gesprochen. Weil ich Therapien mit Familienaufstellung mache wo systemischer Konflikt innerhalb Familien überbrückt wird durch meditierten Austausch, hatte ich die Idee, diese mit Palästinenserinnen und Israelinnen zu machen.

Wieso nur mit Frauen?

In meiner Arbeit organisiere ich Frauenkreise und ich glaube an die Kraft von Frauen, die zusammenkommen. Ich glaube auch daran, dass Frauen eine höhere emotionale Intelligenz haben, um ruhiger und respektvoller über Dinge zu reden. Meiner Erfahrung nach ist die Energie in Diskussionen, an denen sowohl Männer als auch Frauen teilnehmen, häufig generell sehr aggressiv. Auch in den Friedensgruppen, die es auf Facebook gibt. Generell ist mir aufgefallen, dass in diesen Gruppen Frauen die eine sanftere Art haben, gar nicht erst zu Wort kommen oder sich nicht trauen, etwas zu sagen.

Weshalb ist es so schwierig, eine solche Familienaufstellung mit Palästinenserinnen und Israelinnen umzusetzen?

Es gibt Palästinenserinnen in Israel, die auch Israeli sind. Sie zu treffen ist einfach. Es gibt aber auch Palästinenserinnen, die in Gaza oder Teilen des Westjordanlandes leben und nicht nach Israel reindürfen. Genauso wenig dürfen wir zu ihnen. Das ist super verrückt. Die meisten Palästinenser, die unter 30 sind, haben noch nie einen Israeli kennengelernt. Außer vielleicht einen Soldaten, der ihren Vater bei einer Konfrontation angeschossen hat – und das ist dann das Bild, das sie von uns haben.

Sie haben sich also für eine Facebookgruppe entschieden?

Mein Partner hat mich daran erinnert, dass es das Internet gibt. (lacht) Ich habe also angefangen, in mehrere Gruppen auf Facebook zu posten, dass ich Zoom-Calls organisiere. Darauf habe ich sehr viele Antworten bekommen. Um den Überblick zu behalten, habe ich eine Facebook-Gruppe gegründet. Bis zum ersten Zoom-Call hat es dann etwas gedauert, weil ich warten wollte, bis sich auch Palästinenserinnen melden. Es sollte schließlich ein Austausch sein.

War der erste Zoom-Call erfolgreich?

Ja. Wir waren sieben oder acht, davon nur eine Palästinenserin, die in Gaza lebt. Sie hat 2014, im letzten Krieg, ihr ein Monat altes Baby bei einem Bombenangriff verloren. Auch ihr Vater starb an Krebs. Israel lässt zwar Menschen herein, um das Krankenhaus zu besuchen, dafür brauchen diese jedoch einen Pass. Das hängt mit viel Bürokratie zusammen. Ihr Vater hat ein Jahr lang auf diesen Pass gewartet und als er ihn letztendlich bekam, war es zu spät. Der Krebs hatte sich bereits in seinem Körper ausgebreitet. Diese junge Frau hat zwei geliebte Menschen aufgrund der Situation verloren. Sie ist Lehrerin, aber die Schule, in der sie arbeitet, wurde zerbombt, sodass sie aktuell nicht arbeiten kann. Sie lebt in einem Haus aus Eisen, in dem es super warm ist - ohne Klimaanlage. Das alles ist nicht vergleichbar mit der Situation von uns Israelinnen, die zugehört haben. Egal welche Meinung man hat – es ist ein riesiger Unterschied, ob jemand in Gaza lebt oder hier. Obwohl hier auch viel Trauma herrscht und es definitiv nicht einfach ist, zum Beispiel im Vergleich zu Menschen, die in Luxemburg leben. Aber im Vergleich mit Menschen aus dem Gaza leben wir extrem privilegiert.

Der Gazastreifen

Dazu kommt, dass Palästinenser*innen von der Hamas verboten wird, mit Israelis zu sprechen, richtig?

Genau. Für sie ist das extrem gefährlich. Wenn Hamas herausfindet, dass eine Palästinenserin mit Israelis in Kontakt ist, kann sie ins Gefängnis kommen oder schlimmer. Deswegen benutzt sie auf Facebook nicht ihren richtigen Namen sondern den Namen ihrer Tochter, die umgebracht wurde. Es war extrem mutig von ihr, an diesem Zoom-Call teilzunehmen. Sie hat in dem Gespräch gesagt, wir seien die ersten Israelis, die sie in ihrem Leben kennengelernt hat und dass sie sehr glücklich sei, zu sehen, dass es gute Menschen unter uns gibt. Sie dachte, wir würden sie alle hassen und alle Palästinenser umbringen wollen. Das von ihr zu hören hat mich stolz gemacht, diese Gruppe gegründet zu haben.

Hamas und Palästinenser*innen in Gaza

Wie unterschiedlich gehen Generationen mit der anhaltend angespannten Situation in Israel und Palästina um?

Seit der zweiten und letzten Intifada 1996 kam es zu einer krassen Trennung. Damals wurde eine Mauer durch und um Westjordanland gebaut mit strengen Check-Points. Seitdem kann man nicht mehr hin- und herfahren. Mein Partner ist neun Jahre älter als ich. Er erzählt mir davon, dass er in seiner Jugend mit seinen Freunden in besetzte palästinensische Gebiete gefahren ist, um ihre Motorräder reparieren zu lassen. Sie hatten Freunde dort, denen eine Werkstatt gehörte. Damals gab es viel mehr Kontakt untereinander. Unsere Generation wächst hingegen in Angst und Hass auf – auf beiden Seiten.

Woher kommt diese Angst und der Hass aus Sicht einer Israeli?

Ich denke, es ist mehr Angst als Hass. Wer mit Israelis spricht, findet schnell heraus, dass sie Frieden wollen. Sie denken jedoch, der Hass der anderen Seite, besonders der Hamas, sei so groß, dass diese nicht aufhören würden, bis alle Juden aus dem Land verschwunden sind. Sie sind der Meinung, beschützt werden zu müssen. Das klingt absurd für die andere Seite. Aber es ist das überwiegende Gefühl in Israel. Dann gibt es einen starken Hass vonseiten der Palästinenser. Kinder lernen dort: Alles was ungerecht ist und alles was in eurem Leben nicht gut läuft, ist die Schuld von Israelis. Was auch nicht die ganze Wahrheit ist.

„Es gibt Fakten und Fakt ist, dass Israel mehr Macht hat und deshalb auch mehr Ungleichheit schafft. Aber zu sagen, die einen sind die Bösen und die anderen die Guten – das ist zu einfach.“

Faran Livneh

Als Sie in Luxemburg und in Berlin gelebt haben, wie haben Sie Medienberichte erlebt?

Ich glaube, in Deutschland wird oft eher Pro-Israel berichtet. Auch wegen der deutschen Geschichte. In Luxemburg habe ich eher das gegenteilige Gefühl. Was uns Juden Angst macht ist, dass Antizionismus sehr viel Antisemitismus auslöst. Ich finde es extrem wichtig, dass man immer versucht, eine Brücke zu sehen, einen Mittelweg und beide Seiten. Es ist nicht Schwarz oder Weiß. Es gibt Fakten und Fakt ist, dass Israel mehr Macht hat und deshalb auch mehr Ungleichheit schafft. Aber zu sagen, die einen sind die Bösen und die anderen die Guten – das ist zu einfach. Alles hat seine Gründe, alles ist miteinander verstrickt. Zionismus ist meiner Meinung nach eines der missverstandensten und missrepräsentiertesten Wörter, die es gibt. Ich kann ohne Problem Zionist sein – also glauben, dass Juden ein Recht darauf haben im historischen Judäa zu leben, ein Recht auf Selbstbestimmung, Sicherheit und Freiheit haben – und gleichzeitig wollen, dass Palästinenser genau die gleichen Rechte haben. Das wiederspricht sich nicht, auch wenn es oft so dargestellt wird, sowohl von rechtsradikalen Israelis, die den Zionismus als Entschuldigung nutzen und verzerren, als auch von Anti-Israelischer Propaganda.

Sie würden Sich also als Zionistin bezeichnen?

Ja, in dem oben beschriebenen Sinne identifiziere ich mich auf jeden Fall als Zionistin. Das Problem ist, dass das Wort eine sehr negative Konotation hat weswegen ich mich oft nicht traue das zu sagen. Aber nur wenn ich es tue kann ich dieses Missverständnis ändern.

Antisemitismus und Antizionismus

Und es steckt Politik dahinter …

… die oft absolut gar nicht am Frieden interessiert ist. Ich habe zum Beispiel keinen Zweifel daran, dass „Bibi“ Netanjahu, der viel zu lange Premierminister war, kein Interesse an Frieden hat. Er will Geld und Macht aber Frieden lohnt sich für ihn nicht. Die Hamas in Gaza will auch keinen Frieden und ist meiner Meinung nach nicht am Wohl der Palästinenser interessiert. Das ist traurig. Vor allem leiden die Menschen doppelt. Sie leiden unter einer israelischen Besatzung und unter einer Leitung, die absolut nicht an ihrem Wohl interessiert ist. Das zeigt alleine diese krasse Diktatur in Gaza, die besagt, dass sie noch nicht einmal mit einem Israeli in Kontakt sein dürfen. Über Frauenrechte fangen wir gar nicht erst an zu sprechen. Das ist auch eine Wahrheit. Ich finde es wichtig, dass wer darüber redet, das auch klar macht.

Haben Sie das Gefühl, in Luxemburg sind die Menschen informiert über das alles?

Nein. Für mich ist es immer schwierig – und ich denke für viele – auf einmal auf so starke Meinungen aus Europa zu treffen. Egal ob aus Luxemburg, Deutschland, Frankreich oder sonst wo. Irgendeiner sagt dann zum Beispiel „Ja, ihr habt Land geklaut.“ Ich denke dann: „Komm nach Israel, freunde dich mit beiden Seiten an, recherchiere, lese darüber – und wenn du dann denkst, du kannst eine Meinung haben, ok.“ Aber ich wurde dort geboren, ich habe all diese Dinge erlebt, ich war im Westjordanland und ich habe immer noch keine Meinung. Meine einzige Meinung ist, dass ich Frieden will und versuchen will, irgendwie etwas in diese Richtung zu unternehmen. Aus irgendeinem Grund ist das ein Thema, zu dem Menschen eine ganz krasse Meinung haben, obwohl sie nicht unbedingt einen Einblick haben. Das ist extrem schwer. Ich denke auch, dass der Ausdruck starker Meinungen eine extrem männliche Art ist, an Dinge heranzugehen. Jetzt, wo immer mehr Frauen empowered werden, höhere Positionen bekommen und mehr zu sagen haben, ändert sich das. Deshalb glaube ich daran, dass es Frauen sein werden, die den Frieden hier erreichen werden.

„Ich wurde dort geboren, ich habe all diese Dinge erlebt, ich war im Westjordanland und ich habe immer noch keine Meinung. Meine einzige Meinung ist, dass ich Frieden will.“

Faran Livneh

Welche Rolle spielen soziale Medien dieses Mal in dem Konflikt?

Soziale Medien spielen definitiv eine riesige Rolle. Ob diese gut ist oder schlecht, weiß ich auch nicht. Natürlich ist es krass, wenn man Videos sieht, in denen Kinder leiden. Videos, in denen Juden schreien, Araber sollen sterben oder Araber schreien, Juden sollen sterben. Aber gibt das den richtigen Eindruck? Es ist wichtig, dass Menschen sehen, was hier abgeht, andererseits sehen sie nicht alles.

Was sehen sie Ihrer Meinung nach nicht?

Mein Sohn besucht eine Kindertagesstätte, die von einem arabisch-jüdischen Paar geführt wird. Er ist ein Palästinenser, der in Israel aufgewachsen ist und sie ist religiöse Jüdin. Er hasste Juden, als er jung war. Sie ist in Angst aufgewachsen. Sie haben sich verliebt und realisiert, dass sie ihr Leben lang einer Gehirnwäsche unterzogen wurden. Jetzt haben sie drei Söhne und sie haben eine Kindertagesstätte gegründet, in der sie arabisch und hebräisch lehren und jüdische, muslimische und christliche Feste feiern. Diese Dinge kommen nicht in den sozialen Medien an. Vielleicht müsste ich ein Video von vierjährigen jüdischen und palästinensischen Israelis posten, wie sie zusammen spielen. Rassismus ist aber natürlich auch eine Realität.

Als Konsequenz gibt es gerade eine Bewegung die sagt: „Nein, wir sind Palästinenser und Israelis und das ist auch möglich.ˮ Sie sind dazwischen. Sie fühlen sich stark verbunden mit dem palästinensischen Volk, sie fühlen sich andererseits aber auch israelisch weil sie wohnen hier, sie sprechen hebräisch und sind so weder in der einen noch anderen Gemeinschaft ganz zuhause. Offiziell haben Palästinenser und Israelis die gleichen Rechte - mit ein paar Ausnahmen die von israelischer Seite als Schutzmaßnahmen rechtfertigt werden. Es gibt Araber in hohen Positionen, die Richter sind oder Ärzte. Theoretisch könnten sie gleich sein. Das ist in der Praxis definitiv nicht so und es gibt viele Probleme. Was ich beispielsweise nicht verstehe ist, dass es fast keine öffentlichen Schulen gibt, die gemischt sind. Das bringt niemandem etwas. Aber es gibt auch viel Zusammenarbeit. Trotz aller Ungleichheiten hat Israel seine guten Seiten. Es ist eine Demokratie und es gibt Zeitungen, die extrem links und komplett gegen die Regierung positioniert sind. Außerdem gibt es viele Friedensbewegungen innerhalb Israels. Eine relativ neue Bewegung die mich sehr hoffnungsvoll stimmt heißt Standing together. Zahlreiche jüdische und palästinensische Israelis haben sich zusammengetan um der Regierung und der Welt zu zeigen dass sie sich weigern Feinde zu sein und sich gemeinsam für gleiche Rechte und Frieden einsetzen.

Es gibt also Potential, um friedlich zusammenzuleben?

Ich habe das Gefühl, ich muss daran glauben.

Welche Lösung sehen Sie, die das alles beenden könnte? Könnte eine Zwei-Staaten-Lösung funktionieren und wenn ja, wie würde das aussehen?

Ich denke viel darüber nach und habe mich nicht zu 100 Prozent festgelegt. Vielleicht ändere ich auch noch meine Meinung. Aber meine persönlich liebste Lösung wäre ein gemeinsames Land. Vielleicht auch eine Art Föderation: Zwei Staaten mit einer gemeinsamen Hauptstadt. Die Angst, die jüdische Israelis haben, wenn von einem gemeinsamen Staat gesprochen wird, ist die, dass wir unsere Identität verlieren. Wir sind eine krasse Minderheit. Wenn alle Grenzen aufgemacht werden, gibt es hier einen viel kleineren Prozentsatz an Juden als an Arabern. Wir haben Angst, wieder gehasst, irgendwann dann diskriminiert und umgebracht zu werden. Deshalb gibt es dieses extreme Festhalten an Israel. Es ist das einzige Land, das wir je hatten, in dem wir nicht gehasst und umgebracht wurden. In dem wir sicher sind.

Vergangenheit und Zukunft eines Palästinensischen Staates

Sie glauben aber trotzdem daran, dass ein gemeinsames Land möglich ist?

Ich denke, wir haben uns genug etabliert. Sowohl in der Sprache und der Kultur als auch in der Politik. Eine Idee, die ich habe, wäre, dass im Parlament 50 Prozent Juden und 50 Prozent Araber sein müssen. Dass in der Verfassung festgeschrieben wird, dass es unmöglich ist, dass je eine Seite mächtiger wird als die andere. Das ist meine Vision und meine Hoffnung. Für viele ist das eine Utopie aber ich will daran glauben. Es kann sein, dass es erst zwei Staaten geben muss. Ich bin allerdings absolut dagegen, dass Juden aus den besetzten Gebieten – ich bin gegen Siedlungen – rausgeschmissen und zurück nach Israel gebracht werden und alle Araber, die hier sind, zurück nach Palästina geschickt werden. Das würde die Gesellschaft auseinanderreißen.