„Wenn niemand darüber spricht, bleibt viel Platz für extreme Meinungen“
Von Melody Hansen, Lex KlerenDiesen Artikel hören
Faran Livneh wurde in Israel geboren und ist in Luxemburg aufgewachsen. Seit knapp vier Jahren lebt die junge Mutter wieder in Israel. Dort engagiert sie sich für den Frieden zwischen Israeli*nnen und Palästinenser*innen. Im Interview spricht Faran darüber, wie sie die Spannungen als Jugendliche wahrgenommen hat, wie sie die Bombenangriffe im Mai 2021 erlebt hat und warum sie daran glaubt, dass dauerhafter Frieden möglich ist.
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Der israelisch-palästinensische „Konflikt“ hat einen neuen Höhepunkt erreicht: Was als Proteste gegen die Vertreibung palästinensischer Familien im israelisch besetzten Ost-Jerusalem begann, eskalierte zu Ausschreitungen und schließlich zur Stürmung des Al-Aqsa-Geländes, der drittheiligsten Stätte des Islam, durch israelische Sicherheitskräfte. Proteste und Gegenproteste weiteten sich bald auf verschiedene Städte in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten aus. Der al-Aqsa-Vorfall wurde für die Terrorgruppe Hamas zum Auslöser, um vom Gazastreifen aus Tausende von Raketen auf Israel abzufeuern. Dies löste an elf Tagen im Mai eine militärische Reaktion Israels aus, bei der allein im Gazastreifen mindestens 13 Israelis und 256 Palästinenser getötet wurden. Tausende wurden verletzt und obdachlos, und die Aufräumarbeiten dauern in Erwartung eines möglichen neuen Krieges noch an.
Auch wenn die meisten der Tausenden von Raketen, die aus dem Gazastreifen abgefeuert wurden, vom israelischen Raketenabwehrsystem Iron Dome abgefangen wurden, trafen sie mit ihrer beispiellosen Reichweite Orte, die normalerweise von der Realität der Besatzung weiter entfernt sind. Beide Seiten wurden wegen des Einsatzes von wahllos abgefeuerten Raketen und der unverhältnismäßigen Gewaltanwendung gegen zivile Infrastruktur und Menschenleben wegen möglicher Kriegsverbrechen angeklagt. Neben dem anhaltenden Trauma für Israeli*nnen und Palästinenser*innen und der schleichenden Gewalt der Blockade des Gazastreifens, die das Leben in diesem Gebiet nahezu unerträglich macht, bleibr eine politische Lösung nach wie vor schwer fassbar. Die zugrundeliegenden Spannungen im Zusammenhang mit der Räumung des Stadtviertels Sheikh Jarrah sind nach wie vor ungelöst, ebenso wie die meisten Verhandlungen zwischen den Parteien und die fehlenden Fortschritte bei einer Zwei-Staaten-Lösung. Hardliner auf beiden Seiten setzen ihre Provokationen fort, die zu neuen Gewaltausbrüchen führen können.
Um die menschliche Seite und die Auswirkungen dieser Ereignisse zu verstehen, sprachen wir mit Wafaa, einer palästinensischen Geflüchteten aus dem Gazastreifen in Luxemburg, und Faran, einer israelisch-luxemburgischen Frau, die in Israel lebt. Beide engagieren sich für die Friedenskonsolidierung auf lokaler Ebene, indem sie Palästinenser und Israelis zusammenbringen, um ihre Differenzen zu überwinden. Ihre Lebensgeschichten verraten viel darüber, wie der „Konflikt“ jenseits abstrakter Statistiken über Tod und Leid aussieht.
Lëtzebuerger Journal: Sie wurden in Israel geboren und sind in Luxemburg aufgewachsen. Erzählen Sie uns davon.
Faran Livneh: Mein Vater ist Israeli und meine Mutter ist Luxemburgerin. Nachdem sie sich in Israel kennengelernt und geheiratet haben, lebten sie kurz in Luxemburg, wo meine große Schwester zur Welt kam. Danach sind sie nach Israel gezogen, wo ich dann geboren wurde. Als ich zweieinhalb Jahre alt war, haben meine Eltern sich scheiden lassen und ich bin mit meiner Schwester und meiner Mutter zurück nach Luxemburg gezogen. Ich bin also hier aufgewachsen und zur Schule gegangen. Während meiner Kindheit bin ich drei Mal im Jahr zu meinem Vater nach Israel gefahren. In den Weihnachts- und Osterferien und einen Monat im Sommer. Mein Vater hat nur hebräisch mit uns gesprochen, wodurch ich die Sprache perfekt beherrsche. Ich war zwar nur in den Ferien dort, habe aber sehr viel mitbekommen. Jetzt, da ich in Israel lebe, merke ich natürlich, dass das noch einmal etwas anderes ist.
„Ich hatte auch das Gefühl, je mehr ich über den ganzen Konflikt lerne, desto weniger weiß ich.“
Faran Livneh
Vor knapp vier Jahren haben Sie sich dazu entschieden, nach Israel zu ziehen. Wie kam es dazu?
Ich wusste immer, dass ich irgendwann einmal eine Zeit lang in Israel wohnen wollte, um herauszufinden, ob es mir dort gefällt. Im Juli 2017, als ich gerade in Berlin gelebt habe, ist meine Oma in Israel gestorben. Das hat mich sehr getroffen, was komisch war, weil wir nie ein besonders enges Verhältnis zueinander hatten. Ich hatte dennoch das Bedürfnis, dorthin zu fahren und an der traditionellen jüdischen Trauerzeit teilzunehmen. Davor hatte ich irgendwie immer eine Love-Hate Beziehung zu Israel. Aber als ich dieses Mal dort war, habe ich zum ersten Mal in meinem Leben gespürt, dass ich zu Hause bin. Ich bin danach zurück nach Berlin gegangen, aber dort habe ich mich gefühlt, als würde ich feststecken. Also habe ich mir ohne Plan ein One-Way-Ticket nach Israel gekauft. Und dann habe ich dort den zukünftigen Vater meines Sohnes kennengelernt. Mir war dann relativ schnell klar, dass ich mit ihm zusammen in Israel leben will. Im Dezember bin ich also hergezogen, nach Jaffa, einem Stadtteil von Tel Aviv.
Sie meinten vor unserem Gespräch, dass Sie Bedenken haben, dieses Interview zu geben. Wovor haben Sie Angst?
Ich habe das Gefühl, niemand kennt in dieser Diskussion die Wahrheit. Es gibt auch nicht die eine Wahrheit. Es gibt so viele Geschichten von der einen und von der anderen Seite. Meine Angst ist, dass es so rüber kommt als würde ich zu sehr für oder gegen eine bestimmt Seite argumentieren - und dass ich dafür vielleicht von beiden Seiten angegriffen werde. Gleichzeitig finde ich es wichtig, dass darüber gesprochen und aufgeklärt wird. Dabei muss versucht werden, mit so viel Bescheidenheit wie möglich an die Sache heranzugehen. Denn wenn niemand darüber spricht, weil niemand sich traut, bleibt viel Platz für extreme Meinungen.
Sie haben vor kurzem die Facebook-Gruppe „Israeli and Palestinian Women Believing in Peace“ gegründet. Welches Ziel verfolgen Sie damit?
Ich habe mein Leben lang schon gespürt, dass ich etwas für den Frieden tun will. Ich habe mich immer betroffen gefühlt. Das geht gar nicht anders, wenn man Israeli oder Palästinenser ist, weil man auch von außen immer wieder darauf angesprochen wird. Ich musste mich schon so oft rechtfertigen. Ich erinnere mich daran, dass ich schon mit 13, als ich noch das Lyzeum besucht habe, mit zwei Jungs – beide Moslems – heftige Diskussionen hatte. Trotz der Diskussionen waren eben diese beiden Jungs lange teil meiner engsten Freunde. Und wir haben bis heute einen warmen und respektvollen Umgang miteinander. Irgendwie hat uns das Thema halt verbunden. Solche Diskussionen haben sich durch mein ganzes Leben gezogen. Mit 19 oder 20 Jahren hatte ich genug. Ich hatte auch das Gefühl, je mehr ich über den ganzen Konflikt lerne, desto weniger weiß ich. Ich spürte eine gewisse Hoffnungslosigkeit, die relativ lange anhielt.
Was war der Auslöser dafür, dass Sie wieder begonnen haben, Sich mit dem Thema auseinanderzusetzen?
Als ich in Berlin gelebt habe, kam mein Interesse langsam wieder. Ich denke, das liegt auch daran, dass Deutschland noch einmal einen anderen Bezug dazu hat. Dort hatten die Menschen, denen ich begegnet bin, oft sehr starke Meinungen. Sie waren entweder sehr Pro-Israel oder extrem Anti-Israel eingestellt. Dadurch habe ich mich wieder mehr mit der Problematik und den verschiedenen Perspektiven und Kritiken auseinandersetzen müssen. Es wurde mir zu dem Zeitpunkt auch klar: Wenn ich in Israel leben würde, könnte ich mich aktiver mit Friedensbemühungen abgeben.
Sie hatten also das Gefühl, dort leben zu müssen, um etwas zu unternehmen?
Genau. Ich hatte aber auch immer das Gefühl, wenn jemand nicht in Israel aufgewachsen ist und dort gelebt hat, ist das für Israelis ein Grund, einen nicht ernst zu nehmen. Sie sagen dann, es wäre einfach, davon zu reden, wenn man das alles nicht jeden Tag miterlebt hat. Israelis sind generell sehr defensiv, weil es eben ein sehr sensibles Thema ist.
Dabei haben Sie doch immer wieder vieles mitbekommen …
Ja. Ich erinnere mich an die erste Intifada, da war ich acht oder neun Jahre alt. Das war die Zeit, in der Busse und Restaurants in die Luft gesprengt wurden. Wir verbrachten die Ferien wie immer bei meinem Vater. Wir waren in der Stadt und ich wollte unbedingt in einem bestimmten Restaurant Spaghetti essen, meine Schwester wollte aber lieber Falafel essen. Wir haben uns gestritten, meine Schwester hat gewonnen und wir gingen Falafel essen. Ich war natürlich quengelig. Auf einmal hörten wir eine schwere Explosion und das Restaurant, in dem ich Spaghetti essen wollte, wurde in die Luft gesprengt. Dabei sind auch Kinder gestorben. Was ich hier sagen will ist: es ist nicht so, als wüsste ich nicht was es bedeutet in Israel zu leben und die Konsequenzen des Konflikts zu erleben und zu erleiden. Aber aufgrund des Feedbacks, das ich von Israelis bekam, war ich dennoch immer vorsichtig. Ich wusste, ich muss länger hier gelebt haben, um von ihnen ernst genommen zu werden.
Erste Intifada
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Die erste Intifada war ein Volksaufstand der Palästinenser*innen gegen die israelische Besetzung der palästinensischen Gebiete und die dortigen Lebensbedingungen, der von Dezember 1987 bis September 1993 dauerte. Ihre Beendigung war der Auslöser für die Osloer Abkommen und die Erwartung eines ausgehandelten Rückzugs der israelischen Militärbesatzung und einer Machtübergabe an die palästinensischen Behörden, wenn auch nicht unbedingt an einen palästinensischen Staat. Das Scheitern der Verhandlungen und der Umsetzung der Bestimmungen führte zu weiteren Spaltungen, die die zweite Intifada auslösten. Insgesamt starben fast 150 Israelis und über 1.000 Palästinenser*innen, von denen ein Viertel unter 17 Jahre alt war. Mehr als dreitausend Israelis und über hunderttausend Palästinenser*innen wurden im Laufe von sechs Jahren verletzt.
Nach dem Sechstagekrieg von 1967 übernahm Israel die militärische Kontrolle über den Gazastreifen, das Westjordanland und Ostjerusalem und kontrollierte damit alle verbleibenden Teile des historischen Palästina. Die Palästinenser*innen im Westjordanland und im Gazastreifen wurden von der „Zivilverwaltung“ des israelischen Verteidigungsministeriums verwaltet, die für die Verwaltung der besetzten Gebiete zuständig war. Zwar gab es bewaffnete Milizen, vor allem die Palästinensische Befreiungsorganisation (Palestinian Liberation Organisation,PLO), die sich mit einem Guerillakrieg gegen die Besatzung wehrten, doch entstand die Intifada nicht aus einer militärischen Konfrontation. Stattdessen ging sie in erster Linie aus Jugendprotesten hervor, die unter der militärischen Besatzung und ihren Realitäten aufgewachsen waren.
Zwischen 1967 und 1987 verschlechterte sich die Stellung der Palästinenser*innen in den besetzten palästinensischen Gebieten (oPt) in Bezug auf ihre staatsbürgerlichen, politischen und wirtschaftlichen Rechte allmählich, da die israelische Siedlungspolitik immer aggressiver wurde und zunehmend palästinensisches Land in der oPt enteignete. Ausfuhrbeschränkungen, Beschränkungen der Land- und Wassernutzung und andere Maßnahmen beeinträchtigten die palästinensische Wirtschaft zusätzlich. Zu dieser Zeit war das Reisen zwischen den palästinensischen Gebieten und Israel noch möglich, und viele Palästinenser*innen arbeiteten in Israel. Diese Möglichkeiten standen jedoch nicht allen zur Verfügung, und in der Palästinensischen Autonomiebehörde herrschte aufgrund der restriktiven Politik eine hohe Arbeitslosenquote. In den 70er Jahren trugen der weltweite Ölpreisverfall und die wachsende Inflation, die in den 80er Jahren fast außer Kontrolle geriet, zur wirtschaftlichen Notlage bei.
Parallel dazu demonstrierte eine neue Generation von Palästinenser*innen, die unter der Besatzung und insbesondere in den überfüllten Flüchtlingslagern aufgewachsen war, zunehmend gegen die israelische Militärbesatzung und wurde zum Gesicht der ersten Massenproteste bis 1987. Die israelische Haltung gegenüber den Palästinenser*innen und den Protesten wurde immer stärker militarisiert und abgesichert, was die Spannungen innerhalb Palästinas und Israels über die Maßnahmen der Regierung gleichermaßen anheizte.
Unbefristete Inhaftierungen, Deportationen, Zerstörung von Häusern, Schläge, kollektive Bestrafung von Gemeinden in Form von Ausgangssperren und Wasser- oder Stromabschaltungen sowie die Ächtung jeglicher Unterstützung für die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) oder andere politische Strukturen brachten 1987 den Siedepunkt. Die israelische Führung hielt es damals für wichtig, eine Politik der „Eisernen Faust“ durchzusetzen, bei der die genannten Taktiken, einschließlich des Einsatzes von scharfer Munition gegen unbewaffnete Demonstranten, zur Unterdrückung von Protesten eingesetzt wurden. Als im Dezember 1987 ein israelischer Lastwagen an einem Kontrollpunkt in Gaza in ein palästinensisches Auto krachte, nur wenige Tage nachdem ein Jude in der gleichen Gegend ermordet worden war, kam es zu spontanen Unruhen in der Osttürkei und in Teilen Israels.
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Mehr als ein vermeintlicher Vergeltungsakt für die Tötung muss der Beginn der ersten Intifada im Kontext von zwei Jahrzehnten Besatzung und der sich verschlechternden sozioökonomischen Lage der Palästinenser*innen, insbesondere der Jugend, gesehen werden. In den ersten Wochen setzten IDF-Soldaten scharfe Munition gegen unbewaffnete Demonstranten ein, von denen viele minderjährig waren. Verteidigungsminister Rabin legte kurz darauf eine Politik der „Gewalt, Macht und Schläge“ fest, die die Politik der Eisernen Faust fortsetzte, allerdings mit Gummigeschossen, was die hohe Zahl von mehr als hunderttausend verwundeten Palästinenser*innen erklärt. Er befahl den Soldaten auch, Demonstranten zu schlagen, wobei er leugnete und Widerspruch erntete, dass er auch gesagt hatte, sie sollten verhafteten Demonstranten die Knochen brechen (ein Video eines solchen Vorfalls löste einen Medienwirbel aus, es gab eine große Kundgebung in Tel Aviv, und Soldaten meldeten sich zu Wort). Obwohl die meisten palästinensischen Demonstranten gewaltlos oder meist mit Steinen bewaffnet waren, warfen einige Molotowcocktails und später wurden auch Schusswaffen eingesetzt.
Auch wenn anfangs nicht alle Palästinenser*innen den Aufstand unterstützten, schloss sich das Militär an, und viele Basisbewegungen taten sich zusammen, wobei vor allem Frauen viele anführten. In Israel sorgte das harte Durchgreifen für viele Diskussionen, obwohl die politische Führung weiterhin repressive Maßnahmen ergriff.
Die zunächst geheimen Friedensverhandlungen zwischen Israel und der PLO (Palestine Liberation Organization) in Oslo führten schließlich zu einem formellen Ende der Intifada in Form der Osloer Abkommen und veränderten die israelisch-palästinensischen Beziehungen bis zum heutigen Tag. Die PLO - die zuvor das Existenzrecht Israels abgelehnt hatte - akzeptierte den israelischen Staat und wurde von Israel und der internationalen Gemeinschaft als Vertreter des palästinensischen Volkes anerkannt. Nach heutiger Lesart hätten die Osloer Verträge die Schaffung einer Zwei-Staaten-Lösung durch einen politischen Prozess ermöglicht, bei dem die Probleme auf beiden Seiten durch Verhandlungen und nicht durch Gewalt gelöst worden wären. Ursprünglich wurde die Anerkennung eines palästinensischen Staates als Teil der Verhandlungsergebnisse ausdrücklich vermieden. Extremere Kräfte auf beiden Seiten stellten den Friedensprozess in Frage: Die Hamas und der Palästinensische Islamische Dschihad begannen mit ihren Selbstmordattentaten und lehnten jede Anerkennung Israels ab, während Benin von einem ultranationalistischen Juden ermordet wurde, weil er den Friedensprozess unterstützte. Als sich die Verhandlungen bis ins Jahr 2000 hinzogen, führten die Polarisierung in beiden Lagern und neue Reibungen aufgrund neuer Siedlungen und anderer Beschränkungen in der palästinensischen Autonomiebehörde schließlich zur zweiten Intifada.
Sie leben nun seit knapp vier Jahren dort und waren auch während der elf Tage im Mai dort, an denen Bomben gefallen sind. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Für uns kam das wie aus dem Nichts. Mir ist bewusst, dass Menschen in Gaza täglich leiden, aber für uns war die Entwicklung sehr überraschend. Vor allem in Tel Aviv leben wir in einer Art Blase. Hier ist es möglich, sein Leben zu leben und so zu tun, als wäre nichts. Auf einmal gingen mitten in der Nacht die Sirenen an. Ich war überhaupt nicht darauf vorbereitet, weil ich nicht so häufig Nachrichten schaue. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich so etwas erlebt habe. Ich wusste überhaupt nicht, was ich tun soll. Es war ein Uhr in der Nacht, ich war in meinem Zimmer und mein Sohn Ari hat geschlafen. Ich wusste nicht, ob wir einen Shelter im Haus haben, ob ich meinen Sohn wecken soll, ob ich drinnen bleiben soll. Nachdem die Sirenen erklingen, hat man nur ein paar Minuten Zeit, um sich zu entscheiden. Wer dann nicht im Shelter ist, steht schlimmstenfalls auf der Straße, wenn Bomben fallen. Das war eine heftige Situation.
Wie ging es dann weiter?
Mein Vater hat mir sofort geschrieben. Er meinte mein Schlafzimmer, in dem mein Sohn in der Nacht auch geschlafen hat, sei relativ geschützt. Es liegt ungefähr in der Mitte der Wohnung im Erdgeschoss und drum herum stehen Hochhäuser. Wenn eine Rakete geflogen käme, würde sie zuerst ein Hochhaus treffen. Also bin ich, immer wenn Raketen geflogen sind, in dem Zimmer geblieben. Ich wollte meinen Sohn nicht wecken, um ihn nicht zu traumatisieren. Es waren zwei richtig heftige Wochen.
Sie meinten, in Jaffa leben die Menschen friedlich zusammen. War das im Mai auch so?
Es stimmt, dass Juden und Palestinänsische-Araber in Jaffa friedlich zusammenleben. Deswegen wohne ich hier und mag es, hier zu wohnen. Während der Bombenangriffe gab es jedoch viele Aufstände. Araber haben Juden gelyncht und Juden haben Araber gelyncht. Meine Familie hat sich nicht aus dem Haus getraut. Ich habe mein Haus eine Woche lang kaum verlassen. Danach bin ich immer nur sehr kurz aus dem Haus gegangen, wenn es hell war, um die wichtigsten Dinge zu erledigen. Das war für mich ein Wake-up call.
Die Zusammenstöße im Mai
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Wochenlang lieferten sich palästinensische Demonstrant*innen mit der israelischen Polizei Auseinandersetzungen über die mögliche Räumung mehrerer palästinensischer Familien im Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah. Die Räumungen sind nicht nur als mögliche Obdachlosigkeit einer Familie zu verstehen, sondern auch im Zusammenhang mit der Besetzung der palästinensischen Gebiete, zu denen Ostjerusalem gehört. Da israelische Siedler*innen die demografische Zusammensetzung ehemals palästinensischer Viertel und Gebiete veränderten, wuchsen die anfänglichen Proteste schnell an, als die Polizei mit harter Hand gegen die Unruhen vorging. Jüdische Extremist*innen und Palästinenser*innen verhöhnten sich zunehmend gegenseitig und griffen zu Gewalt, so dass sich die Proteste bald auf ganz Israel und die besetzten palästinensischen Gebiete ausweiteten. Als die Polizei während des Ramadan wiederholt zum heiligen Al-Aqsa-Gelände vordrang, nachdem von dort Steine auf Polizisten geworfen worden waren, schockierten außergewöhnliche Bilder von Tränengas, Gummigeschossen und Betäubungsgranaten die Welt. In verschiedenen israelischen Städten kämpften arabische und jüdische Menschenmengen gegeneinander, wobei die israelische Polizei die israelischen Mobs oft schützte.
Die im Gazastreifen ansässige Terrormiliz Hamas stellte Israel ein Ultimatum zum Verlassen des Geländes und feuerte daraufhin über 4.000 Raketen auf Israel ab. Die meisten wurden abgefangen, aber die israelische Zivilbevölkerung wurde durch die ständigen Warnungen, in den Schutzraum zu flüchten, traumatisiert. Innerhalb von 11 Tagen wurden 13 Israelis durch Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen getötet und 114 verletzt, bevor am 21. Mai ein Waffenstillstand vereinbart wurde. Im Gazastreifen selbst starben mehr als 250 Menschen bei israelischen Luftangriffen und etwa 2.000 wurden verletzt. Mehrere Tausend sind weiterhin obdachlos. Mehr als 1.000 Häuser wurden zerstört und viele weitere Tausende sind beschädigt. Von den 113.000 Binnenvertriebenen, die durch die Luftangriffe entstanden sind, konnten bis auf 8.000 alle in ihre Häuser zurückkehren. Die psychosozialen Bedürfnisse von Kindern und Erwachsenen sind akut, aber es gibt nur wenige medizinische Einrichtungen. Die Blockade und die Angst vor neuen Zusammenstößen und einem möglichen neuen Krieg halten die Wiederaufbaubemühungen in Grenzen, da kein Baumaterial nach Gaza gelangt. Der Wiederaufbau wird zwischen 290 und 380 Mio. USD kosten. Derzeit herrscht Frieden, obwohl aus dem Gazastreifen Brandbomben geflogen wurden, die Israel mit Luftangriffen beantwortete.
Neue Proteste im Westjordanland, einschließlich Ost-Jerusalem, gehen weiter. UNICEF berichtet, dass seit dem Ende der Feindseligkeiten im Mai mindestens 276 Kinder durch scharfe Munition, Gummigeschosse, Erschütterungsgranaten und Tränengas verletzt wurden. Aufgrund des jugendlichen Charakters der Proteste wurden im gleichen Zeitraum 145 Kinder in Ostjerusalem verhaftet und insgesamt 1.090 Palästinenser*innen verletzt. Etwa 1.600 jüdische Israeli*nnen betraten Ende Juli unter Polizeischutz das Gelände der al-Aqsa / des Tempelbergs, um der historischen Zerstörung der jüdischen Tempel zu gedenken, die das Gerichtsverfahren über die Räumung von Sheikh Jarrah ausgelöst hatte.
Beiden Seiten werden wahllose Angriffe auf Zivilisten und Kriegsverbrechen vorgeworfen. Der Internationale Strafgerichtshof sammelt weiterhin Beweise, auch wenn Israel behauptet, weder für die besetzten palästinensischen noch für die israelischen Gebiete zuständig zu sein. In Gaza wurden mindestens 20 Familien durch die Bombardierung vollständig ausgelöscht. Die Angriffe auf ein von internationalen Medien besetztes Gebäude und die Bombardierung einer Straße ohne Vorwarnung, bei der 44 Zivilisten getötet wurden, sind weitere Beispiele für mögliche Kriegsverbrechen. Außerdem hat der UN-Menschenrechtsrat eine unabhängige, internationale Untersuchungskommission eingesetzt, die alle möglichen Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und die internationalen Menschenrechte untersucht, die zu den jüngsten Ereignissen geführt haben könnten.
Ihr Wunsch, etwas zu unternehmen, wurde also wieder stärker?
Ja. Aber ich wusste nicht richtig, was ich genau tun soll. Ich habe viel mit meinem Partner darüber gesprochen. Weil ich Therapien mit Familienaufstellung mache wo systemischer Konflikt innerhalb Familien überbrückt wird durch meditierten Austausch, hatte ich die Idee, diese mit Palästinenserinnen und Israelinnen zu machen.
Wieso nur mit Frauen?
In meiner Arbeit organisiere ich Frauenkreise und ich glaube an die Kraft von Frauen, die zusammenkommen. Ich glaube auch daran, dass Frauen eine höhere emotionale Intelligenz haben, um ruhiger und respektvoller über Dinge zu reden. Meiner Erfahrung nach ist die Energie in Diskussionen, an denen sowohl Männer als auch Frauen teilnehmen, häufig generell sehr aggressiv. Auch in den Friedensgruppen, die es auf Facebook gibt. Generell ist mir aufgefallen, dass in diesen Gruppen Frauen die eine sanftere Art haben, gar nicht erst zu Wort kommen oder sich nicht trauen, etwas zu sagen.
Weshalb ist es so schwierig, eine solche Familienaufstellung mit Palästinenserinnen und Israelinnen umzusetzen?
Es gibt Palästinenserinnen in Israel, die auch Israeli sind. Sie zu treffen ist einfach. Es gibt aber auch Palästinenserinnen, die in Gaza oder Teilen des Westjordanlandes leben und nicht nach Israel reindürfen. Genauso wenig dürfen wir zu ihnen. Das ist super verrückt. Die meisten Palästinenser, die unter 30 sind, haben noch nie einen Israeli kennengelernt. Außer vielleicht einen Soldaten, der ihren Vater bei einer Konfrontation angeschossen hat – und das ist dann das Bild, das sie von uns haben.
Sie haben sich also für eine Facebookgruppe entschieden?
Mein Partner hat mich daran erinnert, dass es das Internet gibt. (lacht) Ich habe also angefangen, in mehrere Gruppen auf Facebook zu posten, dass ich Zoom-Calls organisiere. Darauf habe ich sehr viele Antworten bekommen. Um den Überblick zu behalten, habe ich eine Facebook-Gruppe gegründet. Bis zum ersten Zoom-Call hat es dann etwas gedauert, weil ich warten wollte, bis sich auch Palästinenserinnen melden. Es sollte schließlich ein Austausch sein.
War der erste Zoom-Call erfolgreich?
Ja. Wir waren sieben oder acht, davon nur eine Palästinenserin, die in Gaza lebt. Sie hat 2014, im letzten Krieg, ihr ein Monat altes Baby bei einem Bombenangriff verloren. Auch ihr Vater starb an Krebs. Israel lässt zwar Menschen herein, um das Krankenhaus zu besuchen, dafür brauchen diese jedoch einen Pass. Das hängt mit viel Bürokratie zusammen. Ihr Vater hat ein Jahr lang auf diesen Pass gewartet und als er ihn letztendlich bekam, war es zu spät. Der Krebs hatte sich bereits in seinem Körper ausgebreitet. Diese junge Frau hat zwei geliebte Menschen aufgrund der Situation verloren. Sie ist Lehrerin, aber die Schule, in der sie arbeitet, wurde zerbombt, sodass sie aktuell nicht arbeiten kann. Sie lebt in einem Haus aus Eisen, in dem es super warm ist - ohne Klimaanlage. Das alles ist nicht vergleichbar mit der Situation von uns Israelinnen, die zugehört haben. Egal welche Meinung man hat – es ist ein riesiger Unterschied, ob jemand in Gaza lebt oder hier. Obwohl hier auch viel Trauma herrscht und es definitiv nicht einfach ist, zum Beispiel im Vergleich zu Menschen, die in Luxemburg leben. Aber im Vergleich mit Menschen aus dem Gaza leben wir extrem privilegiert.
Der Gazastreifen
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Der Gazastreifen, oder einfach Gaza, ist die Heimat von 2 Millionen Palästinenser*innen, die derzeit unter einer fast vollständigen Blockade des Personen- und Warenverkehrs in und aus dem Gebiet stehen. Zusammen mit dem Westjordanland und Ostjerusalem steht er seit 1967 unter militärischer Besatzung. Das Gebiet ist von einer Grenzmauer umgeben, und es gibt heute nur zwei Kontrollpunkte für Zivilisten: einen von Israel und einen zweiten von Ägypten verwalteten.
Es gibt keinen funktionierenden Flughafen und Israel hat seit der Übernahme des Gazastreifens durch die Hamas im Juni 2007 eine Luft-, See- und Landblockade verhängt. Ein von Israel kontrolliertes Genehmigungssystem regelt die Ein- und Ausreise von Zivilpersonen in andere besetzte palästinensische und israelische Gebiete und wurde als willkürlich und undurchsichtig kritisiert. Zwar gibt es Sondergenehmigungen aus humanitären Gründen, z. B. für medizinische Behandlungen, doch gilt auch hier die gleiche Kritik.
Der ägyptische Grenzübergang arbeitet ebenfalls mit einem Genehmigungssystem, war aber vor Februar 2021 regelmäßig monatelang geschlossen, als er zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Infokastens „auf unbestimmte Zeit“ geöffnet wurde. Davor blieb er zwischen 2014 und 2018 bis auf wenige Tage geschlossen.
Im Jahr 2005 zog der damalige israelische Premierminister alle Streitkräfte und jüdischen Bürger*innen aus dem Gazastreifen ab und begründete dies mit der demografischen Bedrohung durch eine arabische Mehrheit in einem israelischen Staat. Kurz darauf gewann die islamische Widerstandsbewegung Hamas die Parlamentswahlen und übernahm schließlich die Verwaltung des Gazastreifens, nachdem es zu Auseinandersetzungen mit der gemäßigteren Palästinensergruppe Fatah gekommen war. Die Hamas erkennt das Existenzrecht Israels nicht an und wird von den meisten westlichen Ländern als terroristische Organisation betrachtet, weil ihr militärischer Flügel Selbstmordattentate gegen Zivilisten verübt, Tunnel für den Schmuggel von Waren und Angriffe auf israelische Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten nutzt und vor allem Raketenangriffe auf israelische Siedlungen und Gebiete verübt.
Während der jüdischen Feiertage, bei Angriffen auf israelische Siedlungen und Gebiete sowie zuweilen aus unbestimmten Gründen kann Israel alle zivilen Grenzübergänge und Warenübergänge auf seiner Seite schließen. Seit 2007 gelten außerdem Einfuhrbeschränkungen für sogenannte Güter mit doppeltem Verwendungszweck, die von der Hamas zur Herstellung von Raketen oder zum Bau von unterirdischen Tunneln in ihre Gebiete und Siedlungen in den besetzten Gebieten missbraucht werden könnten. Dazu gehören Treibstoff, Beton oder Wasserrohre. Die wiederholten Bombenangriffe Israels auf den Gazastreifen haben dazu geführt, dass wichtige Infrastrukturen nicht wieder aufgebaut werden können. Israel wirft der Hamas vor, zivile Gebäude und Infrastrukturen sowie die Zivilbevölkerung zu missbrauchen, um militärische Ausrüstung zu verstecken. Heute sind weniger als 5 Prozent des Süßwassers in Gaza trinkbar, das Abwassersystem ist zusammengebrochen, und trotz verschiedener Verhandlungen, die zeitweise den Zugang zu humanitärer Hilfe und Gütern verbessert haben, ist die humanitäre Lage in Gaza katastrophal. Die internationale Gemeinschaft betrachtet Israel als Besatzungsmacht im Gazastreifen, ein Status, der Israel besondere Verpflichtungen hinsichtlich der humanitären Lage im Gazastreifen auferlegt. Israel bestreitet diesen Status mit der Begründung, dass sie keine physische Präsenz im Gazastreifen haben und führt Sicherheitsgründe an, die die Blockade erforderlich machen.
Die UNO bezeichnet die Blockade des Gazastreifens als eine Form der kollektiven Bestrafung seiner Bewohner*innen, die nach dem humanitären Völkerrecht illegal ist. Luxemburg schließt sich der Position der UNO und der EU an und fordert die Beendigung der Blockade.
Dazu kommt, dass Palästinenser*innen von der Hamas verboten wird, mit Israelis zu sprechen, richtig?
Genau. Für sie ist das extrem gefährlich. Wenn Hamas herausfindet, dass eine Palästinenserin mit Israelis in Kontakt ist, kann sie ins Gefängnis kommen oder schlimmer. Deswegen benutzt sie auf Facebook nicht ihren richtigen Namen sondern den Namen ihrer Tochter, die umgebracht wurde. Es war extrem mutig von ihr, an diesem Zoom-Call teilzunehmen. Sie hat in dem Gespräch gesagt, wir seien die ersten Israelis, die sie in ihrem Leben kennengelernt hat und dass sie sehr glücklich sei, zu sehen, dass es gute Menschen unter uns gibt. Sie dachte, wir würden sie alle hassen und alle Palästinenser umbringen wollen. Das von ihr zu hören hat mich stolz gemacht, diese Gruppe gegründet zu haben.
Hamas und Palästinenser*innen in Gaza
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Die Hamas, die islamische Widerstandsbewegung, regiert den Gazastreifen seit 2006, als sie die Parlamentswahlen der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) überraschend gewann. Ihre Ursprünge liegen in der Ersten Intifada, als sie als Ableger der Muslimbruderschaft auftrat und zum Dschihad gegen Israel aufrief. Der Einsatz von militärischen und terroristischen Taktiken (insbesondere Raketen- und Selbstmordattentate) gegen die militärische Besatzung, die Leugnung des Existenzrechts Israels, die teilweise Ablehnung des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses und das ursprüngliche Ziel der Hamas, einen islamischen Staat im gesamten historischen Palästina zu errichten, führten dazu, dass die internationale Gemeinschaft und Israel versuchten, ihren Einfluss einzudämmen.
Wenige Tage nach dem Wahlsieg der Hamas machte das Quartett für den Frieden im Nahen Osten, das sich aus den Vereinten Nationen, der Europäischen Union, Russland und den USA zusammensetzt, die Auslandshilfe für die Palästinenser*innen von der Bedingung abhängig, dass sich die neue Regierung an den Grundsätzen der Gewaltlosigkeit, der Anerkennung des Existenzrechts Israels und der Akzeptanz aller früheren Friedensvereinbarungen orientiert. Diese Bedingungen waren für die Hamas im Wesentlichen inakzeptabel, auch wenn gemäßigte Kräfte sie dazu gebracht hatten, die Grenzen von vor 1967, einen Waffenstillstand, wenn nicht sogar die Anerkennung Israels, sowie andere Änderungen ihrer früheren Hardliner-Positionen zu akzeptieren.
Der Druck von außen und die internen Differenzen untergruben allmählich das Vertrauen und den Raum für eine Zusammenarbeit zwischen den palästinensischen Fraktionen. Die Hamas baute bald ihre eigenen Sicherheitskräfte auf, was zu Spannungen mit der Fatah führte, einer gemäßigteren und säkularen Partei, von der die internationale Gemeinschaft einen Sieg erwartete und die unter Mahmoud Abbas weiterhin den Vorsitz der Palästinensischen Autonomiebehörde innehat. Gleichzeitig wurde bekannt, dass die Fatah-treue Präsidentengarde der Palästinensischen Autonomiebehörde von externen Mächten mit militärischer Ausrüstung und Unterstützung versorgt wurde, um möglicherweise die Hamas zu stürzen. Fraktionskämpfe und Zusammenstöße führten dazu, dass die Hamas 2007 den Gazastreifen militärisch übernahm. In dem Versuch, die Sicherheit zu verbessern und Druck auf die Hamas auszuüben, verhängten Israel und Ägypten die Gaza-Blockade, die bis heute anhält.
Obwohl wiederholt Versuche unternommen wurden, die Parteien zu versöhnen und eine palästinensische Einheitsregierung zu bilden, waren die meisten Bemühungen nur von kurzer Dauer oder wurden nie verwirklicht. Neuwahlen werden von Abbas immer wieder verschoben. Dafür gibt es zwar mehrere komplexe Gründe, aber ein Argument ist, dass die Hamas voraussichtlich einen noch größeren Anteil der Sitze gewinnen wird, wenn auch nicht unbedingt die Mehrheit. Die Vermittlung durch die UN und Ägypten hat in letzter Zeit einige Fortschritte gebracht. Beobachter*innen sind der Ansicht, dass die derzeitige Situation in einer unhaltbaren Sackgasse steckt, da die Hamas zu vielen ihrer härteren Positionen zurückgekehrt ist. Die innerpalästinensischen und externen Differenzen müssen irgendwie gelöst werden. Länder wie Norwegen und die Schweiz haben es zu diesem Zweck abgelehnt, die Hamas als terroristische Organisation anzuerkennen, so dass sie sich weiterhin im diplomatischen Austausch und im politischen Engagement einbringen können.
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Die Hamas duldet keine abweichende Meinung. Wer Proteste gegen ihre Herrschaft plant, organisiert oder daran teilnimmt, wird verhaftet, und kritische Berichterstattung kann zu Haftstrafen, Folter und Schlägen führen. Kontakte mit Israelis werden als Hochverrat geahndet, und Zivilist*innen werden vor Militärgerichte gestellt. Im Laufe der Jahre hat die Repression unterschiedliche Ausmaße angenommen, wobei die Proteste gegen die Hamas in letzter Zeit stärker unterdrückt wurden. Während ihrer Herrschaft wurde die Hamas beschuldigt, menschliche Schutzschilde zum Schutz ihrer militärischen Ausrüstung einzusetzen und gezielt Waffen zu lagern oder Militäreinheiten in Wohngebieten zu betreiben, um sich vor israelischen Luftangriffen zu schützen. Der Gazastreifen weist eine der höchsten Bevölkerungsdichten der Welt auf, so dass jeder Angriff auf ein militärisches Ziel mit ziemlicher Sicherheit zivile Opfer zur Folge hat.
Seit den 90er Jahren, aber insbesondere in den Jahren 2008, 2012, 2014, 2018 und zuletzt 2021, haben die Hamas und andere militante Gruppen regelmäßig improvisierte ungelenkte Raketen und Mörser auf Israel abgefeuert. Die Zahl der Raketen schwankt zwischen einer niedrigen zweistelligen Zahl und Tausenden, und Israel verlässt sich auf das Raketenabwehrsystem Iron Dome, das etwa 90 Prozent der Raketen abfängt. Die Zahl der Opfer ist zwar gering, doch ihr Ziel ist es, Terror zu verbreiten. Zu verschiedenen Zeitpunkten wurden Waffenstillstände unterzeichnet und Hilfslieferungen in den Gazastreifen im Austausch für eine Einstellung des Raketenbeschusses zugelassen.
Israels eigene Vergeltungsmaßnahmen im Gazastreifen wurden ebenfalls als mögliche Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachtet, da sie unverhältnismäßige Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung und die Infrastruktur hatten. Nach dem humanitären Völkerrecht ist die zivile Infrastruktur geschützt, und die Angriffe müssen in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten militärischen Ziel stehen. Israels Verfahren zur Bestimmung militärischer Ziele wurde nach Untersuchungen, die ergaben, dass Zivilisten und zivile Infrastrukturen im Laufe der Jahre systematisch angegriffen wurden, einer intensiven Prüfung unterzogen. Insbesondere die Wasser-, Energie-, Gesundheits-, Bildungs- und landwirtschaftliche Infrastruktur hat unter den wiederholten Bombardierungen gelitten.
Die Blockade macht den Wiederaufbau und die Instandhaltung oft unmöglich, und immer mehr Infrastrukturen sind baufällig. Die meisten grundlegenden Güter und Medikamente sind knapp oder gar nicht verfügbar. Ein UN-Bericht aus dem Jahr 2012 schätzt, dass der Gazastreifen bis 2020 unbewohnbar werden wird, unter anderem wegen des Mangels an Süßwasser. Heute sind weniger als fünf Prozent des Wassers trinkbar, da ungeklärte Abwässer in ein überlastetes Grundwasserreservoir versickern. Energie steht jeweils nur für einen halben Tag zur Verfügung, die Arbeitslosenquote liegt bei Erwachsenen bei fast 50 Prozent und bei jungen Menschen noch höher. Die von Israel und später von der Hamas verhängten Beschränkungen haben das Wenige, was an wirtschaftlicher Aktivität noch vorhanden ist, dezimiert. In früheren Berichten wurde eine Krise der psychischen Gesundheit festgestellt: bis zu 90 Prozent der Kinder haben ständig Angst und leiden selbst ein Jahr nach den Bombenangriffen unter Albträumen und Bettnässen.
Wie unterschiedlich gehen Generationen mit der anhaltend angespannten Situation in Israel und Palästina um?
Seit der zweiten und letzten Intifada 1996 kam es zu einer krassen Trennung. Damals wurde eine Mauer durch und um Westjordanland gebaut mit strengen Check-Points. Seitdem kann man nicht mehr hin- und herfahren. Mein Partner ist neun Jahre älter als ich. Er erzählt mir davon, dass er in seiner Jugend mit seinen Freunden in besetzte palästinensische Gebiete gefahren ist, um ihre Motorräder reparieren zu lassen. Sie hatten Freunde dort, denen eine Werkstatt gehörte. Damals gab es viel mehr Kontakt untereinander. Unsere Generation wächst hingegen in Angst und Hass auf – auf beiden Seiten.
Woher kommt diese Angst und der Hass aus Sicht einer Israeli?
Ich denke, es ist mehr Angst als Hass. Wer mit Israelis spricht, findet schnell heraus, dass sie Frieden wollen. Sie denken jedoch, der Hass der anderen Seite, besonders der Hamas, sei so groß, dass diese nicht aufhören würden, bis alle Juden aus dem Land verschwunden sind. Sie sind der Meinung, beschützt werden zu müssen. Das klingt absurd für die andere Seite. Aber es ist das überwiegende Gefühl in Israel. Dann gibt es einen starken Hass vonseiten der Palästinenser. Kinder lernen dort: Alles was ungerecht ist und alles was in eurem Leben nicht gut läuft, ist die Schuld von Israelis. Was auch nicht die ganze Wahrheit ist.
„Es gibt Fakten und Fakt ist, dass Israel mehr Macht hat und deshalb auch mehr Ungleichheit schafft. Aber zu sagen, die einen sind die Bösen und die anderen die Guten – das ist zu einfach.“
Faran Livneh
Als Sie in Luxemburg und in Berlin gelebt haben, wie haben Sie Medienberichte erlebt?
Ich glaube, in Deutschland wird oft eher Pro-Israel berichtet. Auch wegen der deutschen Geschichte. In Luxemburg habe ich eher das gegenteilige Gefühl. Was uns Juden Angst macht ist, dass Antizionismus sehr viel Antisemitismus auslöst. Ich finde es extrem wichtig, dass man immer versucht, eine Brücke zu sehen, einen Mittelweg und beide Seiten. Es ist nicht Schwarz oder Weiß. Es gibt Fakten und Fakt ist, dass Israel mehr Macht hat und deshalb auch mehr Ungleichheit schafft. Aber zu sagen, die einen sind die Bösen und die anderen die Guten – das ist zu einfach. Alles hat seine Gründe, alles ist miteinander verstrickt. Zionismus ist meiner Meinung nach eines der missverstandensten und missrepräsentiertesten Wörter, die es gibt. Ich kann ohne Problem Zionist sein – also glauben, dass Juden ein Recht darauf haben im historischen Judäa zu leben, ein Recht auf Selbstbestimmung, Sicherheit und Freiheit haben – und gleichzeitig wollen, dass Palästinenser genau die gleichen Rechte haben. Das wiederspricht sich nicht, auch wenn es oft so dargestellt wird, sowohl von rechtsradikalen Israelis, die den Zionismus als Entschuldigung nutzen und verzerren, als auch von Anti-Israelischer Propaganda.
Sie würden Sich also als Zionistin bezeichnen?
Ja, in dem oben beschriebenen Sinne identifiziere ich mich auf jeden Fall als Zionistin. Das Problem ist, dass das Wort eine sehr negative Konotation hat weswegen ich mich oft nicht traue das zu sagen. Aber nur wenn ich es tue kann ich dieses Missverständnis ändern.
Antisemitismus und Antizionismus
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Antizionismus und Antisemitismus werden oft verwechselt und vermischt, können sich aber überschneiden.
Antisemitismus wird in der Regel als Hass und Vorurteil gegen Juden zusammengefasst. Die genaue Definition von Antisemitismus ist jedoch Gegenstand akademischer Debatten, da sich die Frage stellt, wo echte Kritik am Zionismus oder am Staat Israel und der Besetzung der palästinensischen Gebiete in Antisemitismus übergeht. Vor kurzem haben Hunderte von Wissenschaftler*innen aus den einschlägigen akademischen Bereichen die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus unterzeichnet, die die folgende Definition enthält:
- Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Juden als Juden (oder jüdische Einrichtungen als Juden)
Dies wird durch Leitlinien wie folgende weiter verfeinert:
- Antisemitismus kann direkt oder indirekt, explizit oder kodiert sein. So ist beispielsweise „Die Rothschilds kontrollieren die Welt“ eine verschlüsselte Aussage über die angebliche Macht „der Juden“ über die Banken und die internationale Finanzwelt. In ähnlicher Weise kann die Darstellung Israels als das ultimative Böse oder die grobe Übertreibung seines tatsächlichen Einflusses eine verschlüsselte Art sein, Juden zu rassifizieren und zu stigmatisieren. In vielen Fällen ist die Identifizierung kodierter Äußerungen eine Frage des Kontexts und des Urteilsvermögens, wobei diese Leitlinien zu berücksichtigen sind.
Der Begriff „Antisemitismus“ selbst entstand erst im späten 19. Jahrhundert, als er von modernen, vom europäischen Nationalismus beeinflussten Zionisten aufgegriffen wurde, um die Notwendigkeit eines jüdischen Staates zu formulieren. Dies geschah insbesondere angesichts der Diskriminierung und Verfolgung der Juden in Europa, die noch vor den Pogromen in Russland oder dem Aufstieg des Nationalsozialismus erheblich war. Der Zionismus stützt sich zwar auch auf historische und religiöse Argumente für die Schaffung eines jüdischen Staates, aber nicht alle Juden unterstützten den Zionismus, und die Zionisten waren sich auch nicht über die genaue Form eines künftigen Staates in Palästina einig. Diese Meinungsverschiedenheiten bestehen bis heute fort, etwa in der Frage, wie säkular oder religiös der Staat sein sollte, oder in der Frage der Siedlungen und der Annexion der besetzten palästinensischen Gebiete, einer Zwei-Staaten-Lösung und darüber hinaus. Allerdings wird eine Kritik am Zionismus heute oft mit der Kritik am Existenzrecht Israels gleichgesetzt, nicht zuletzt, weil die Begriffe Zionist und Jude von Antisemiten synonym verwendet werden.
Dennoch gibt es eine nuanciertere Debatte, die von Akademiker*innen, Aktivist*innen, israelischen Juden*Jüdinnen, Palästinenser*innen und anderen geführt wird, und Dokumente wie die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus geben Anhaltspunkte dafür, wie wir nuancierte Diskussionen oder Kritik führen können, ohne in antisemitische Tropen zu verfallen. Es ist wichtig, auf diese Begriffe zu achten und darauf, wie sie in unterschiedlichen Kontexten verwendet werden.
Und es steckt Politik dahinter …
… die oft absolut gar nicht am Frieden interessiert ist. Ich habe zum Beispiel keinen Zweifel daran, dass „Bibi“ Netanjahu, der viel zu lange Premierminister war, kein Interesse an Frieden hat. Er will Geld und Macht aber Frieden lohnt sich für ihn nicht. Die Hamas in Gaza will auch keinen Frieden und ist meiner Meinung nach nicht am Wohl der Palästinenser interessiert. Das ist traurig. Vor allem leiden die Menschen doppelt. Sie leiden unter einer israelischen Besatzung und unter einer Leitung, die absolut nicht an ihrem Wohl interessiert ist. Das zeigt alleine diese krasse Diktatur in Gaza, die besagt, dass sie noch nicht einmal mit einem Israeli in Kontakt sein dürfen. Über Frauenrechte fangen wir gar nicht erst an zu sprechen. Das ist auch eine Wahrheit. Ich finde es wichtig, dass wer darüber redet, das auch klar macht.
Haben Sie das Gefühl, in Luxemburg sind die Menschen informiert über das alles?
Nein. Für mich ist es immer schwierig – und ich denke für viele – auf einmal auf so starke Meinungen aus Europa zu treffen. Egal ob aus Luxemburg, Deutschland, Frankreich oder sonst wo. Irgendeiner sagt dann zum Beispiel „Ja, ihr habt Land geklaut.“ Ich denke dann: „Komm nach Israel, freunde dich mit beiden Seiten an, recherchiere, lese darüber – und wenn du dann denkst, du kannst eine Meinung haben, ok.“ Aber ich wurde dort geboren, ich habe all diese Dinge erlebt, ich war im Westjordanland und ich habe immer noch keine Meinung. Meine einzige Meinung ist, dass ich Frieden will und versuchen will, irgendwie etwas in diese Richtung zu unternehmen. Aus irgendeinem Grund ist das ein Thema, zu dem Menschen eine ganz krasse Meinung haben, obwohl sie nicht unbedingt einen Einblick haben. Das ist extrem schwer. Ich denke auch, dass der Ausdruck starker Meinungen eine extrem männliche Art ist, an Dinge heranzugehen. Jetzt, wo immer mehr Frauen empowered werden, höhere Positionen bekommen und mehr zu sagen haben, ändert sich das. Deshalb glaube ich daran, dass es Frauen sein werden, die den Frieden hier erreichen werden.
„Ich wurde dort geboren, ich habe all diese Dinge erlebt, ich war im Westjordanland und ich habe immer noch keine Meinung. Meine einzige Meinung ist, dass ich Frieden will.“
Faran Livneh
Welche Rolle spielen soziale Medien dieses Mal in dem Konflikt?
Soziale Medien spielen definitiv eine riesige Rolle. Ob diese gut ist oder schlecht, weiß ich auch nicht. Natürlich ist es krass, wenn man Videos sieht, in denen Kinder leiden. Videos, in denen Juden schreien, Araber sollen sterben oder Araber schreien, Juden sollen sterben. Aber gibt das den richtigen Eindruck? Es ist wichtig, dass Menschen sehen, was hier abgeht, andererseits sehen sie nicht alles.
Was sehen sie Ihrer Meinung nach nicht?
Mein Sohn besucht eine Kindertagesstätte, die von einem arabisch-jüdischen Paar geführt wird. Er ist ein Palästinenser, der in Israel aufgewachsen ist und sie ist religiöse Jüdin. Er hasste Juden, als er jung war. Sie ist in Angst aufgewachsen. Sie haben sich verliebt und realisiert, dass sie ihr Leben lang einer Gehirnwäsche unterzogen wurden. Jetzt haben sie drei Söhne und sie haben eine Kindertagesstätte gegründet, in der sie arabisch und hebräisch lehren und jüdische, muslimische und christliche Feste feiern. Diese Dinge kommen nicht in den sozialen Medien an. Vielleicht müsste ich ein Video von vierjährigen jüdischen und palästinensischen Israelis posten, wie sie zusammen spielen. Rassismus ist aber natürlich auch eine Realität.
Als Konsequenz gibt es gerade eine Bewegung die sagt: „Nein, wir sind Palästinenser und Israelis und das ist auch möglich.ˮ Sie sind dazwischen. Sie fühlen sich stark verbunden mit dem palästinensischen Volk, sie fühlen sich andererseits aber auch israelisch weil sie wohnen hier, sie sprechen hebräisch und sind so weder in der einen noch anderen Gemeinschaft ganz zuhause. Offiziell haben Palästinenser und Israelis die gleichen Rechte - mit ein paar Ausnahmen die von israelischer Seite als Schutzmaßnahmen rechtfertigt werden. Es gibt Araber in hohen Positionen, die Richter sind oder Ärzte. Theoretisch könnten sie gleich sein. Das ist in der Praxis definitiv nicht so und es gibt viele Probleme. Was ich beispielsweise nicht verstehe ist, dass es fast keine öffentlichen Schulen gibt, die gemischt sind. Das bringt niemandem etwas. Aber es gibt auch viel Zusammenarbeit. Trotz aller Ungleichheiten hat Israel seine guten Seiten. Es ist eine Demokratie und es gibt Zeitungen, die extrem links und komplett gegen die Regierung positioniert sind. Außerdem gibt es viele Friedensbewegungen innerhalb Israels. Eine relativ neue Bewegung die mich sehr hoffnungsvoll stimmt heißt Standing together. Zahlreiche jüdische und palästinensische Israelis haben sich zusammengetan um der Regierung und der Welt zu zeigen dass sie sich weigern Feinde zu sein und sich gemeinsam für gleiche Rechte und Frieden einsetzen.
Es gibt also Potential, um friedlich zusammenzuleben?
Ich habe das Gefühl, ich muss daran glauben.
Welche Lösung sehen Sie, die das alles beenden könnte? Könnte eine Zwei-Staaten-Lösung funktionieren und wenn ja, wie würde das aussehen?
Ich denke viel darüber nach und habe mich nicht zu 100 Prozent festgelegt. Vielleicht ändere ich auch noch meine Meinung. Aber meine persönlich liebste Lösung wäre ein gemeinsames Land. Vielleicht auch eine Art Föderation: Zwei Staaten mit einer gemeinsamen Hauptstadt. Die Angst, die jüdische Israelis haben, wenn von einem gemeinsamen Staat gesprochen wird, ist die, dass wir unsere Identität verlieren. Wir sind eine krasse Minderheit. Wenn alle Grenzen aufgemacht werden, gibt es hier einen viel kleineren Prozentsatz an Juden als an Arabern. Wir haben Angst, wieder gehasst, irgendwann dann diskriminiert und umgebracht zu werden. Deshalb gibt es dieses extreme Festhalten an Israel. Es ist das einzige Land, das wir je hatten, in dem wir nicht gehasst und umgebracht wurden. In dem wir sicher sind.
Vergangenheit und Zukunft eines Palästinensischen Staates
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Bei einer Zweistaatenlösung würde ein unabhängiger, demokratischer palästinensischer Staat auf der Grundlage der Grenzen mit Israel entstehen, wie sie 1967 vor dem Sechstagekrieg bestanden. Das Westjordanland, der Gazastreifen und Ostjerusalem (als Hauptstadt) gelten als besetzte palästinensische Gebiete und bilden die territoriale Grundlage für einen künftigen palästinensischen Staat.
Nach dem Ende der ersten Intifada im Jahr 1993 zielten die Osloer Abkommen und die nachfolgenden Friedensinitiativen und -verträge darauf ab, einen Zeitplan bzw. eine Phaseneinteilung für die Verhandlungspunkte zu erstellen, die für die Erreichung des Friedens erforderlich sind. Bei Fortschritten würde der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) eine größere Selbstständigkeit für die Verwaltung der Palästinensischen Autarkie übertragen, bis eine mögliche Eigenstaatlichkeit in Betracht gezogen werden könnte. Die Verhandlungen sind wiederholt gescheitert, und die Verträge wurden nicht immer eingehalten.
Die wichtigsten ungelösten Fragen betreffen die Grenzen, den Status von Ostjerusalem (da Jerusalem im Rahmen einer Zweistaatenlösung die gemeinsame Hauptstadt werden soll), den Status der israelischen Siedlungen, den Zugang der Palästinenser*innen zu ihrem Land, das Recht der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr und die Sicherheitsgarantien.
Leider haben die letzten 30 Jahre eine Zwei-Staaten-Lösung immer unwahrscheinlicher werden lassen. Die israelischen Siedlungsaktivitäten in Form von Enteignungen, Siedlungsbau und dem Bau von Grenzmauern im Westjordanland und in Ostjerusalem haben vor Ort neue Realitäten geschaffen, die die meisten der ursprünglichen Pläne für eine praktikable Teilung der Gebiete ausschließen. Spätere Resolutionen des UN-Sicherheitsrats und der UN-Generalversammlung, in denen Israel zum Abzug seiner Truppen aus der Osttürkei aufgefordert und die Siedlungen als völkerrechtswidrig bezeichnet wurden, sind weitgehend ignoriert worden. Darüber hinaus verlagert sich die israelische Politik weiter nach rechts, d. h. sie unterstützt die Fortsetzung der Siedlungen und die Annektierung von Land, während die Zersplitterung der palästinensischen Führung zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland das Potenzial für die Aushandlung und Umsetzung eines Abkommens schwächt. Während die internationale Gemeinschaft die Palästinensische Autonomiebehörde als Hauptvertretung der Palästinenser*innen anerkennt, sehen immer mehr Palästinenser*innen die Autonomiebehörde als Kollaborateur des Staates, der ihr Land besetzt hält und sie weiterhin aus diesem Land vertreibt. Für Israel kann es keine echten Verhandlungen über die palästinensische Staatlichkeit geben, da die Hamas den Gazastreifen kontrolliert und alle derartigen Bemühungen ablehnt.
Obwohl die Hamas den Gazastreifen seit 2007 kontrolliert und die Blockade und die regelmäßige Bombardierung des Gazastreifens zu einer ständigen Verschlechterung der humanitären Bedingungen geführt hat, ist ihre Popularität gestiegen. Dieses Ergebnis ist genau das Gegenteil von dem, was mit der Blockade beabsichtigt war, und die Unterstützung der PA macht sie mitverantwortlich für das unnötige Leid der Palästinenser in Gaza. Darüber hinaus ist die Hamas in der Lage, Raketen mit größerer Präzision und Reichweite auf Israel und israelische Siedlungen abzuschießen, obwohl die Tunnel für den Warenschmuggel in den Gazastreifen von Israel systematisch zerstört wurden. Als die Sheikh-Jarrah- und Al-Aqsa-Proteste aufflammten, waren die Proteste zunächst unabhängig von offiziellen palästinensischen Institutionen wie der Palästinensischen Autonomiebehörde oder Gruppen wie der Hamas. Dennoch konnte die Hamas daraus Kapital schlagen, indem sie sich bei einer neuen Generation von Demonstranten als Verteidiger der palästinensischen Interessen positionierte. Ihre eigenen Regierungsstrukturen entwickeln sich weiter, und sie wird wahrscheinlich im Westjordanland politisch Fuß fassen. Unterdessen hat Mahmoud Abbas, der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, die Neuwahlen erneut verschoben, da die Hamas sie wahrscheinlich gewinnen würde.
Was von der Zweistaatenlösung übrig bleibt, sind Argumente für eine begrenzte palästinensische Eigenstaatlichkeit in Teilen des Westjordanlandes (Israel kontrolliert derzeit etwa 60 Prozent davon direkt), eine Art Konföderation (oder 1,5-Staaten-Lösung) oder eine für alle inakzeptable 1-Staaten-Lösung. Gewalttätige Proteste und israelische und palästinensische Mobs in Städten mit gemischter Bevölkerung in ganz Israel tragen weiter zu den Spannungen bei, die derzeit in Israel und in den besetzten palästinensischen Gebieten bestehen. Selbst wenn die USA als wichtigster Verbündeter Israels Druck auf Israel ausüben würden, damit es sich an das Völkerrecht hält, stellt sich die Frage, was von der ursprünglichen Zweistaatenlösung noch zu retten ist.
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Luxemburg unterstützt eine Zwei-Staaten-Lösung auf der Grundlage der Grenzen, wie sie 1967 vor dem Sechstagekrieg bestanden. Dies steht im Einklang mit den Positionen der EU und der UN. Während 9 EU-Mitgliedstaaten* Palästina bereits als Staat anerkennen, tut Luxemburg dies nicht. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn vertritt die Auffassung, dass eine solche Anerkennung nur im Rahmen einer größeren diplomatischen Anstrengung, z. B. der Anerkennung der palästinensischen Staatlichkeit durch die EU als Ganzes, einen wesentlichen Unterschied machen kann. Zu diesem Zweck hat Asselborn wiederholt auf eine gemeinsame Position der EU gedrängt, jedoch ohne Erfolg.
Wie die meisten UN- und EU-Mitgliedstaaten betrachtet Luxemburg die israelischen Siedlungen im Westjordanland als völkerrechtswidrig und verurteilt sie als Kolonisierung, die den Zwei-Staaten-Friedensprozess untergräbt. Zuvor hatte Asselborn gedroht, Luxemburg werde Palästina einseitig anerkennen, sollte Israel das Westjordanland annektieren.
Während der Proteste im Gazastreifen im Jahr 2018 und der jüngsten Eskalationen im Jahr 2021 unterstützte Luxemburg Forderungen nach entsprechenden Sondersitzungen des UN-Menschenrechtsrats zu den Ereignissen in den besetzten palästinensischen Gebieten, einschließlich Ost-Jerusalem, und in Israel. Mit der letzten Forderung und der darauffolgenden Resolution wurde eine unabhängige, internationale Untersuchungskommission eingesetzt, die alle möglichen Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und die internationalen Menschenrechte untersucht, die zu den jüngsten Ereignissen geführt haben könnten.
*Bulgarien, Zypern, die Tschechische Republik, Ungarn, Malta, Polen, Rumänien, die Slowakei und Schweden
Sie glauben aber trotzdem daran, dass ein gemeinsames Land möglich ist?
Ich denke, wir haben uns genug etabliert. Sowohl in der Sprache und der Kultur als auch in der Politik. Eine Idee, die ich habe, wäre, dass im Parlament 50 Prozent Juden und 50 Prozent Araber sein müssen. Dass in der Verfassung festgeschrieben wird, dass es unmöglich ist, dass je eine Seite mächtiger wird als die andere. Das ist meine Vision und meine Hoffnung. Für viele ist das eine Utopie aber ich will daran glauben. Es kann sein, dass es erst zwei Staaten geben muss. Ich bin allerdings absolut dagegen, dass Juden aus den besetzten Gebieten – ich bin gegen Siedlungen – rausgeschmissen und zurück nach Israel gebracht werden und alle Araber, die hier sind, zurück nach Palästina geschickt werden. Das würde die Gesellschaft auseinanderreißen.