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Mentale und physische Gesundheit gleichwertig behandeln – das ist das Ziel der Online-Plattformen Mokuchsdag und LetzBeAware.
Marie Kokiopoulos und Rachel Brixius haben selbst psychische Erkrankungen. Sie sprechen aus Erfahrung. Beide Frauen möchten nicht nur helfen, sondern auch aufklären. Denn wenn Gedanken lügen, können Austausch und Verständnis Leben verändern. Neben dem Psychologen Fränz D’Onghia erläutern sie Probleme, Herausforderungen und Lösungen rund um das psychische Wohlbefinden.
Die junge Frau gegenüber strahlt: breites Grinsen, lautes Lachen und gute Laune. Eigentlich so, wie man sich Menschen, die eine Depression haben, nicht vorstellt. Genau diese Annahme ist ein Problem – eines von vielen, findet Marie Kokiopoulos. Wenn das Leben zur Last wird und der Kopf voller Fragen ist, bleibt wenig Platz für Optimismus und die endlos gepredigten „good vibes“. Das weiß die 26-Jährige aus eigener Erfahrung. Mit 17 Jahren lautete die Diagnose Depression, hinzu kam eine Binge-Eating-Störung.
Marie Kokiopoulos, Mokuchsdag
Mokuchsdag ist ein fiktiver Tag, der zum Ausdruck bringen soll, dass etwas nie passieren wird. Die Bezeichnung steht nun seit geraumer Zeit auch für eine Online-Plattform, die letzten Oktober von der Luxemburgerin initiiert wurde. Denn Marie Kokiopoulos will, dass etwas passiert. Ziel ist es weder Psychologin noch Ärztin zu spielen. Der Start der Plattform war eine Art Hilfeschrei: „Wenn ich, als ich 16 war, jemanden gehört hätte, der über eine Essstörung redet, hätte mir das geholfen. Ich hätte damals so eine Plattform gebraucht.“ Mokuchsdag (auf Instagram & Facebook) soll ein Netzwerk sein, das Ressourcen und Empfehlungen sammelt und zur Verfügung stellt.
Ihre ganz persönlichen Geschichten
Für sie steht ein Aspekt besonders im Mittelpunkt: Betroffene sollen ihre Geschichte erzählen. Was sie getan haben, damit es ihnen wieder besser geht. „Klar, jeder Einzelne geht einen ganz individuellen Weg, es gibt kein universelles Wundermittel.” Dennoch sollen diese Erfahrungen den Betroffenen Mut machen. Einerseits selbst die Initiative zu ergreifen, andererseits Hoffnung geben, dass es wirklich besser werden kann. „Anstatt nur darüber zu sprechen, dass darüber gesprochen werden muss, kann jetzt bitte irgendjemand darüber sprechen?“, so Marie Kokiopoulos, die selbst mit ihrer Geschichte den Schritt in die Öffentlichkeit gewagt hat.
Rachel Brixius vertritt die gleiche Auffassung. Die Psychologie- und Englischstudentin hatte sich im April 2020 zum für sie persönlich größten Schritt entschieden – ihre Geschichte öffentlich zu machen. Mit 16 wurde sie zum ersten Mal mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Die heute 29-Jährige befindet sich aktuell in Therapie, um ihre Depressionen und Angstgefühle zu bewältigen. Menschen, die selbst eine mentale Krankheit durchlebt haben, sollen ihre Geschichten erzählen, meint auch Rachel Brixius.
„Zusätzlich muss der Dialog mit Leuten gesucht werden, die aktuell damit kämpfen. Um beide Seiten der Medaille zu zeigen.“ Denn auch wenn die einzelnen Erfahrungen Mut machen, könnten sich einige von Erfolgsgeschichten eingeschüchtert fühlen und denken: „Bis dahin werde ich es nie schaffen.“
Rachel Brixius, LetzBeAware
Selbst noch zu lernen, wie ein Leben mit Depression gemeistert werden kann, hat Rachel Brixius nicht davon abgehalten, eine Online-Plattform zu gründen. Anhand von Illustrationen und Memes soll LetzBeAware (auf Instagram & Facebook) die verschiedenen Facetten von mentalen Erkrankungen verständlicher machen. Besonders der positive Aspekt wird auf den Accounts deutlich.
Die optimistische Haltung der Gründerin ist auch während des Journal-Interviews offensichtlich: Sie ist eine entschlossene junge Frau, die ein Tabuthema mit viel Humor angeht. Sie fördert mit einer privaten Facebook-Gruppe auch den direkten Austausch. Sie sei für das entgegengebrachte Vertrauen dankbar und gebe ihr Wissen weiter, setze aber auch Grenzen. Auf die Frage, ob sie Aufklärungsarbeit leiste, lacht die junge Frau. Sie sehe sich durchaus in dieser Position und hoffe, dass die Aufarbeitung Früchte trägt.
„Es hat vielen Menschen gutgetan, nicht mit 10.000 Stundenkilometern durchs Leben zu rennen.“
Marie Kokiopoulos, Gründerin von Mokuchsdag
Marie Kokiopoulos über das Feedback zu Mokuchsdag
*auf Luxemburgisch
Wer die Schlagwörter „Depressioun, Binge-Eating-Stéierung, Alkoholismus, Anorexie, Drogenofhängegkeet, Schizophrenie, Angststéierung“ in eine Online-Suchmaschine eintippt, wird wenige Ergebnisse in luxemburgischer Sprache finden. Multilingualismus, der so oft von Vorteil ist, entwickele sich laut Marie Kokiopoulos hier zur Barriere.
Natürlich zähle das Argument, dass in englischer, deutscher oder französischer Sprache wohl mehr Menschen erreicht werden können, dies sollte Referenzen auf Luxemburgisch jedoch auf keinen Fall ausschließen. Neben dem sprachlichen Hindernis würde dies zusätzlich zu einer Identifikationsblockade führen.
Wurden Luxemburger*innen vergessen?
Sie prangert die fehlende Sichtbarkeit der wichtigsten Anlaufstellen in Luxemburg an: Internetseiten, Adressen, Kontakte, an die Betroffene sich wenden können, wenn sie Hilfe brauchen. Auch für Rachel Brixius besteht Nachholbedarf. „Es ist gut gemeint, in einem Land wie Luxemburg von der Sprachvielfalt zu profitieren, aber dabei werden die Luxemburger vergessen.” Es sei entfremdend, als wären mentale Krankheiten ein Phänomen aus dem Ausland, meint sie.
Beide Frauen hoffen, diese Lücken füllen zu können. „Ich merke, dass ich einen Nerv getroffen habe. Es gab viele Menschen, die schon bereit waren und nur noch den letzten Push gebraucht haben“, so Marie Kokiopoulos. Sie ist sich aber auch bewusst, dass dies nicht ausreicht.
Dr. Fränz D’Onghia, Direktor des Service information et prévention de la ligue, räumt ein, dass die Frage der Sprache immer eine sehr komplizierte sei. Er gibt jedoch gleichzeitig zu bedenken, dass Abstriche gemacht und Entscheidungen getroffen werden müssen. „Was ist der Mehrwert? Würden wir alles auf Luxemburgisch machen, hätten wir nicht die Sichtbarkeit, die wir jetzt haben.“ Interne Analysen würden dies unterstützen: Es gebe mehr Menschen, welche die jeweiligen Internetseiten aus dem Ausland abrufen und auch Online-Suchanfragen auf Französisch oder Deutsch würden überwiegen.
Fränz D’Onghia, Service information et prévention de la ligue
Für „das Mädchen aus dem Internet“, wie sich Marie Kokiopoulos selbst betitelt, könnte die Corona-Kampfansage der Luxemburger Regierung auch im Kontext der mentalen Gesundheit nicht passender sein: „Wir sind alle Teil der Lösung, wir sind aber auch alle Teil des Problems.“ Sie wünscht sich, dass die Diskrepanz zwischen mentaler und physischer Gesundheit verschwindet. Beides sollte auf gleicher Ebene besprochen werden. So wie beim Small Talk Tipps zu Ärzt*innen ausgetauscht werden, die bei Magenverstimmungen geholfen haben, sollte dies auch bei Empfehlungen zu passenden Psycholog*innen geschehen.
So wie Eltern ihre Kinder über die gängigen vererbbaren Erkrankungen aufklären, sollte dies auch bei Depressionen oder Alkoholproblemen der Fall sein. Rachel Brixius erklärt, dass Betroffene sich bewusst werden müssten, dass dies Krankheiten wie jede andere seien. „Oder suchen Sie sich Erkältung, Grippe oder Krebs nach Lust und Laune aus?”, fragt sie.
Der Stellenwert der mentalen Gesundheit in der Gesellschaft ist für die Mokuchsdag-Gründerin ein anderer wie noch vor ein paar Jahren. „Vor zehn Jahren wäre meine Plattform auf taube Ohren gestoßen“ und sie fragt sich: „Liegt das vielleicht am Coronavirus?“ Sie stört sich jedoch an der Darstellung, dass psychische Probleme erst durch die Pandemie aufgetreten seien. Die Belastbarkeit jedes Einzelnen wurde sehr wohl durch die sanitäre Extremsituation herausgefordert, es sei jedoch falsch anzunehmen, dass vor der Pandemie alle kerngesund waren.
„Oder suchen Sie sich Erkältung, Grippe oder Krebs nach Lust und Laune aus?”
Rachel Brixius, Gründerin von LetzBeAware
Sie wagt sogar zu sagen, dass „es vielen Menschen gutgetan hat, nicht mit 10.000 Stundenkilometern durchs Leben zu rennen“. Auch Rachel Brixius ist der Meinung, dass psychische Erkrankungen nicht auf die nächste Pandemie gewartet haben. Coronavirus und Depression haben ganz klar etwas gemeinsam: Beide führen zur Isolation, was dem Menschen als soziales Wesen alles andere als guttut.
Ängste, die vom Virus ausgehen, seien manchmal sogar schlimmer als das Virus selbst, wie sie weiter erklärt. Menschen würden nach Halt und Routine suchen, die ihren Alltag strukturieren. Viele Menschen fänden dieses Verlangen im Alkohol, entwickelten Schlafstörungen oder andere Facetten einer Depression. Die junge Frau ist der Meinung, dass man sich durchaus auf dem richtigen Weg befinde, aber wie so oft sei Luxemburg etwas langsamer.
Krankheit, die lügt
„Vielleicht liegt es daran, dass wir als Nation zu stolz sind zuzugeben, dass es in unserem Ländchen solche Probleme gibt?“ Dem gegenüber steht eine rezente Studie des deutschen Robert-Koch-Instituts,die zu dem Ergebnis kommt, dass Menschen in Luxemburg im direkten EU-Vergleich am häufigsten eine Depression hätten.
Rachel Brixius gibt zu, selbst lange Zeit zu stolz gewesen zu sein, sich ihre Erkrankung einzugestehen. Dazu kommt, dass eine Depression einem sozusagen einreden würde, dass man die Krankheit verdient habe. Das Gesicht von LetzBeAware sagt, dass Betroffene sich bewusst werden müssten, „dass Gedanken und Gefühle keine Fakten sind, sondern ein direktes Resultat dieser Krankheit, die einem so viel vorlügt“.
Marie Kokiopoulos, Mokuchsdag
Für Fränz D‘Onghia steht ganz klar fest: Jede Krise hat Kollateralschäden, „wir wissen nicht, wann, aber die Zahlen werden steigen“. Gleichzeitig wurden die entsprechenden Hotlines noch nie so wenig benutzt, wie während des ersten Lockdowns. Der Psychologe bedauert, dass diese, wohl auch wegen der mageren Resonanz, frühzeitig eingestellt wurden und erklärt: „Die meisten Menschen brauchen erst eine psychologische Behandlung, wenn sich die Situation beruhigt hat.“
Mit der Pandemie hat das Thema der mentalen Gesundheit einen Aufschwung erlebt. Er befürchtet jedoch, dass die psychische Gesundheit nach der Krise wieder in Vergessenheit gerät. Für ihn ist sie seit Jahren „parent pauvre“ der Gesundheitspolitik. Es bestehe ein fundamentaler Unterschied in der Wertschätzung von physischen und psychischen Krankheiten. Was beide Frauen aus reiner subjektiver Wahrnehmung und durch Erfahrungsberichte von Betroffenen angesprochen haben, wird vom Psychologen bestätigt: „Es gibt einen reellen Unterschied zwischen Frau und Mann.“
Veraltende Geschlechterrollen führen dazu, dass es Männern schwerer falle, sich zu öffnen, was wiederum auf die soziale Kultur zurückgeführt werden kann: Wie wurde die Person erzogen? In welcher Berufsbranche ist sie aktiv? Mit welchen Menschen umgibt sie sich? Sind die verschiedenen Bereiche traditionelle Männerdomänen, sei die Wahrscheinlichkeit, dass sich Männer emotional öffnen, geschweige denn professionelle Hilfe wahrnehmen, sehr gering.
„Jedes Jahr definieren Experten neu, was denn nun eine Depression ist.”
Dr. Fränz D'Onghia, Direktor des Service information et prévention de la ligue
Es sei ein gesellschaftliches Problem, dass mentale Krankheiten als Schwäche angesehen werden und nicht ins Weltbild der scheinbar traditionellen Männlichkeit des „starken Geschlechts“ passen, sagt Rachel Brixius. Und genau dies führt Fränz D’Onghia wiederum zu einem weiteren Problem. „Jedes Jahr definieren Experten neu, was denn nun eine Depression ist.”
In Therapien und Sitzungen werden die Charakteristiken, die von Betroffenen, also größtenteils Frauen genannt werden, festgehalten. Somit gebe es ein größeres Wissen über Depressionen bei Frauen. Demnach stellt der Psychologe die Frage, ob das Werkzeug, mit dem Erkrankungen behandelt werden, der Behandlung von Depressionen bei Männern gerecht werde.
Rachel Brixius, LetzBeAware
Weitere gefährdete Gruppen sind laut dem Psychologen Senior*innen. „Es wird quasi akzeptiert, dass man im hohen Alter müde ist, sich nicht mehr viel bewegt und weniger isst – das sind eigentlich Symptome einer Depression, die nicht zwangsläufig zum Alter dazugehören und im schlimmsten Fall zum Suizid führen“, sagt er. Suizidgedanken resultieren in den meisten Fällen aus vorhergegangenen Depressionen, wie die Ligue Luxembourgeoise d’Hygiène Mentale ASBL auf ihre Webseite
Hilfestellen in Luxemburg
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SOS Détresse
Telefon: 45 45 45
454545.luKanner- a Jugendtelefon
Telefon: 11 61 11
kjt.luLigue Luxembourgeoise d'Hygiène Mentale ASBL
Telefon: 49 30 29
llhm.luRéseau Psy Psychesch Hëllef Dobaussen
Telefon: 92 29 1
reseaupsy.luLiewen Dobaussen
Telefon: 26 81 51 1
liewen-dobaussen.lu
„2018 wurden 58 Suizide in Luxemburg gezählt“, erklärt Fränz D’Onghia. Darunter befinden sich auch solche, bei denen die Intention nicht eindeutig geklärt werden kann, also ob sich zum Beispiel eine Person bei der Dosierung des Medikamentes geirrt hat. Der Experte auf dem Gebiet befasst sich vor allem mit Suizidprävention und koordiniert seit 2012 den entsprechenden Aktionsplan.
Im Gegensatz dazu sind die Zahlen zu den Suizidversuchen weniger präzise, hier kann nur hochgerechnet oder sich an den Statistiken aus dem Ausland orientiert werden. Ähnlich sieht es bei Depressionen aus. Aus Befragungen könne man herleiten, dass pro Jahr ungefähr sieben Prozent der Menschen eine Depression haben.
Bei Angststörungen, der zweitgrößten Gruppe psychischer Erkrankungen, sind es 14 bis 15 Prozent. Bei Suchtstörungen und Suiziden sind mehr Männer betroffen, bei Suizidversuchen genau wie Depressionen und Angststörungen mehr Frauen, so der Psychologe.
Fränz D‘Onghia über die Rückerstattung einer psychologischen Behandlung
*auf Luxemburgisch
Ein weiteres Problem sei die Rückerstattung einer Behandlung. Diese wird nur finanziell übernommen, wenn sie durch eine*n Psychiater*in erfolgt. Weil es aber viel mehr Psychotherapeut*innen und Psycholog*innen als Psychiater*innen gibt, erstere von der Rückerstattung jedoch weitgehend ausgeschlossen werden, sei das Gleichgewicht gestört. Die Nachfrage sei größer als das bestehende Angebot und die Wartezeiten für einen Termin der erschwinglichen Option lang.
Psychotherapeut*innen könnten Psychiater*innen entlasten und den Ansturm stoppen. Mehr Professionelle könnten mehr Patient*innen auffangen. „Investitionen müssten endlich erhöht, Behandlung und Prävention verbessert werden“, sagt der Experte.
So sehen es auch die Persönlichkeiten hinter LetzBeAware und Mokuchsdag. Bis es jedoch soweit ist, wollen sich beide Frauen weiter starkmachen und ihren Teil dazu beitragen, dass mentale Gesundheit in den Vordergrund rückt und psychische Probleme sichtbarer gemacht werden. Bei allen bestehenden Hürden solle nie unterschätzt werden, was die Erzählung einer einzigen Erfahrung ausmachen kann. Wie Marie Kokiopoulos mit einem Grinsen erklärt: „Ich habe mit einer Smartphone-Kamera gesprochen und seitdem waren schon 15 Menschen zur psychologischen Behandlung“.
Fränz D’Onghia, Service information et prévention de la ligue