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Der Jahreswechsel ist eine passende Gelegenheit, auf das Jahr zurückzublicken, das hinter uns liegt. Für das Journal-Team bedeutet das: zurückschauen auf mehr als 600 veröffentlichte Artikel und Podcasts sowie mindestens dreimal so viele geführte Interviews. Jedes Teammitglied hat den Beitrag ausgewählt, der ihn oder sie im Jahr 2023 am meisten geprägt hat.
"Haben sie in den nächsten Tagen was Wichtiges? Bei dem sie bei der Sache sein müssen?" Ich überlege kurz: "Den Job. Also … nein?" Der Arzt, dem ich dankbar für den schnellen Termin war, schiebt mir ein Rezept zu: "Nehmen Sie das, drei Tropfen abends, in Wasser aufgelöst, fünf Tage. Nicht länger. Nicht anfangen, es auf eigene Initiative zu nehmen, ja?" Ich nicke. Mein Kopf schmerzt seit rund einer Woche, wohl, wie mir grade gesagt wurde, weil ich im Schlaf die Zähne krampfhaft zusammenbeiße. Vermuteter Grund: Akuter Stress. Naja, passt.
Eine freundliche Apothekerin gibt mir mit der kleinen Kiste – ganz von der CNS erstattet – eine Erinnerung, die Tropfen nur nachts und nur fünf Tage zu nehmen. Ich nicke wieder … und schlafe wie ein Kind in der ersten Nacht der Sommerferien. Mein Bett ist Nirvana. Wow. Ich hatte nie Probleme beim Schlafen, aber die nächsten zwei Tage fühlen sich an, als ob ich 30 Jahre etwas falsch gemacht hätte. Auch die Symptome werden besser. Erst, als ich die vierte Dosis der blauen Tropfen mit Pfirsichgeschmack getrunken habe – lecker – nagt die Frage an mir, welcher Zaubertrunk mir all die guten Nächte beschert. "Rivotril". Nie gehört. Kurz googlen. Wirkungsstoff Clonazepam. Irgendwo klingelt es. Was sagt Wikipedia? "Clonazepam ist…" Ich seufze tief: " … ist ein Benzodiazepin."
Ich vertraue Ärzt*innen. Auch in diesem Fall nehme ich mir nicht heraus, mich über ihr Fachwissen hinwegzusetzen. Das Medikament reduziert, so Dr. Wikipedia z.B Muskelaktivität während des REM-Schlafes und ist, so ganz nebenbei, ein starkes Anxiolytikum – reduziert also Angstzustände. Ob dies tatsächlich die verschreibungsrelevanten Gründe sind, entzieht sich meiner Amateurrecherche, wirkt aber einleuchtend.
Dennoch regt es mich auf, so kalt erwischt worden zu sein. Das Wort "Benzodiazepin" ist in keinem der Gespräche gefallen. In gleich zwei Artikeln habe ich versucht, den Ge- und Missbrauch der psychisch und physisch stark süchtig machenden "Benzos" zu skizzieren. Rund 6.000 Leute in Luxemburg sind hochdosisabhängig – die meisten sind ältere Frauen. Noch deutlich mehr sind nur "normal" abhängig. Langfristig werden sie zum emotionalen Zombie. Ich habe mit Töchtern gesprochen, die ihre Mütter nicht mehr erkannt haben, weil sie durch das psychotrope Medikament andere Personen geworden sind. Mit Ärzten, die von Patient*innen angegriffen wurden, als sie ihre Dosis reduzieren wollten. Mit anderen, die trotz der enormen Nebenwirkungen die Dosis ihrer Patient*innen kaum reduzieren konnten, weil die Entzugserscheinungen tödlich sein können. Es ging um Leute, die täglich monatliche Dosen einnehmen und andere, die heimlich Monatsvorräte horten. Meist, ohne dass dies irgendjemand bemerkt.
"Rund 6.000 Leute in Luxemburg sind hochdosisabhängig [nach Benzodiazepinen] – die meisten sind ältere Frauen. Noch deutlich mehr sind nur 'normal' abhängig."
Benzodiazepine "knallen" nicht, im Gegenteil: Sie schrauben runter. Der Kopf hat Ruhe. Stille. Das tun sie, indem sie alle Emotionen herunterschrauben. Ihr größtes Problem ist, dass sie etwas zu gut sind. Das macht sie zur furchteinflößend effizienten Pflaster-Lösung. In vielen Fällen ist ihr zeitlich begrenzten Einsatz absolut legitim, in vielen anderen wären tiefergreifende Therapien nötig. Doch ihre Wirkung lädt dazu ein, sie als Wunderheilmittel zu verstehen. Sie haben sich definitiv so angefühlt. Die vier mal drei Tropfen, die ich genommen haben, sind ein Bruchteil des Inhaltes des Fläschchens. Ruhe in Tropfenform. Ich habe sie am nächsten Tag entsorgt.