Kreisende Gedanken

Von Sarah RaparoliLex Kleren

Diesen Artikel hören

Krankheiten machen Angst. Mit dieser Angst, die für Außenstehende nicht immer zu begreifen ist, müssen Betroffene lernen zu leben. Das Lëtzebuerger Journal bat drei Diabetiker*innen vor die Kamera, die einen sehr ehrlichen Einblick in ihren Alltag mit der Zuckerkrankheit geben.

Dieser Artikel wird dir gratis zur Verfügung gestellt. Wenn du unser Team unterstützen willst, damit wir auch in Zukunft Qualitätsjournalismus anbieten können, dann schließe ein Abo ab!

„Du musst dich ein paar Mal spritzen und deine Werte im Auge behalten, sonst nichts? Das geht doch.“ Eine Aussage, die sich Diabetiker*innen möglicherweise bereits mehrmals anhören mussten oder die man auch selbst getätigt hat. „Für viele Menschen ist es nicht wie Krebs, denn diese Diagnose macht Angst“, erklärt Sylvie Paquet, Leiterin der Maison du Diabète in Luxemburg, gegenüber dem Lëtzebuerger Journal. „Auch Diabetes kann schwerwiegende Folgen haben. Reaktionen wie ‚es ist nur Zucker oder es hätte auch Leukämie sein können‘ sind falsch.“ Die Ernährungsberaterin befasst sich seit fast 40 Jahren mit der Erkrankung, deren Auswirkungen und Fortschritte. In den letzten Jahrzehnten sei sehr viel passiert, „aber die Sensibilisierung ist nicht immer einfach, weil es wenig spektakulär scheint.“

Mit Kampagnen möchte die Vereinigung stets Menschen in den Vordergrund stellen, die von ihren Erfahrungen erzählen. Ziel ist es, anderen Betroffenen Mut zu machen und die restliche Bevölkerung so gut es geht aufzuklären. Oft seien erstere Personen, die mit beiden Beinen im Leben stehen und zufrieden sind. „Außenstehende hören sich die Erfahrungsberichte an und meinen daraufhin: ‚Okay und wo ist denn jetzt das Problem?‘ So entsteht bei Menschen, die nichts davon kennen, ein bestimmtes Bild. Es vermittelt, dass alles in Ordnung ist und Diabetiker ganz ohne Einschränkungen leben.“ Das Leben nach der Diagnose sei jedoch ein anderes. „Es ist eine große Einschränkung. Die Spontanität des Alltags verschwindet.“ Dem sind sich June Mousel (11), Claudia Kollwelter (31) und Roger Behrend (72) bewusst.

Die Einschnitte des Alltags

Alle drei haben Diabetes Typ 1, also die Form, die weder durch Bewegungsmangel noch ungesunde Ernährung auftritt. Es ist eine Autoimmunerkrankung, bei der die eigenen insulinbildenden Zellen zerstört werden. Somit fehlt dem Körper Insulin, ein Hormon, das für die Regulierung des Stoffwechsels verantwortlich ist. Insulin ist lebensnotwendig, um die wichtigen Stoffe unserer Nahrung richtig verwerten zu können. Vereinfacht dargestellt: Insulin ist eine Art Schlüssel, der die Zellen „aufsperrt“, damit die Glukose, die uns durch Nahrung zugeführt wird, von den Zellen aufgenommen werden kann. Wer es noch vereinfachter erklärt haben möchte: Ohne Insulin würde ein*e Typ-1-Diabetiker*in verhungern, obwohl er*sie Essen zu sich nimmt. June, Claudia und Roger wissen, dass sie ein Leben wie jede andere Person führen können. Dieses Leben bringt aber für die drei Diabetiker*innen einige Beschränkungen mit sich. Sie berichten vor der Kamera von ihrem Alltag, der einerseits normal, andererseits immer wieder aufs Neue große Herausforderungen bereithält. Sie möchten zeigen, dass Diabetes zu haben „nicht so easy ist“, wie einige annehmen würden.

Leben mit Diabetes

June, Claudia und Roger sind Typ-1-Diabetiker*innen. Ihre Werte zu kontrollieren und sich Insulin zu spritzen, gehört für sie zum Alltag. Die Krankheit bedeutet fur Betroffene jedoch viel mehr. Es ist das, was für viele nicht sichtbar ist: die ständig kreisenden Gedanken um die eigene Gesundheit. 
 
Claudia (31) lebt seit über 20 Jahren mit Typ-1-Diabetes
Roger (72) bekam vor gut 37 Jahre die Diagnose Diabetes
June (11) wurde im Oktober 2020 mit Diabetes Typ 1 diagnostiziert

*auf Luxemburgisch und Französisch

Typ-1-Diabetes kann nur mit Insulin behandelt werden, der große Unterschied zu Typ 2. „Es ist eine ganz andere Krankheit“, betont Dr. Roger Wirion, langjähriges Mitglied der Luxemburger Diabetikervereinigung (Association Luxembourgeoise du Diabète, kurz ALD) und erfahrener Diabetologe, der seit 2018 eigentlich im Ruhestand ist. Obwohl sich beide Typen in diesem Punkt deutlich voneinander unterscheiden, sei es falsch zu pauschalisieren, welcher der beiden folgenreicher ist. „Wird eine Person mit 20 Jahren zuckerkrank, ist sie automatisch länger betroffen als jemand, der mit 70 Jahren erkrankt. Typ-1-Diabetes tritt in der Regel früh auf, oft bei Kindern und Jugendlichen.

Mittlerweile ist es jedoch so, dass sich die Tendenz, an Typ-2-Diabetes zu erkranken, nach vorne verlagert hat. Die Ursachen seien leicht auszumachen: „Mangel an Bewegung und ungesundes Essen. Früher war von Altersdiabetes die Rede, weil die meisten nach ihrem 50. Lebensjahr erkrankt sind.“ Für Sylvie Paquet ist nicht die Behandlung ausschlaggebend dafür, wie schlimm es ist. „Nur weil sich jemand besonders oft am Tag spritzen muss, ist sein Diabetes nicht automatisch schlimmer. Man muss sich verstärkt mit der ganzen Thematik auseinandersetzen und aus diesem Grund passen Typ-1-Diabetiker besonders auf sich auf. Weil Typ-2-Diabetes oft nicht sofort entdeckt wird, kann man sagen, dass bei diesen Menschen eher Komplikationen auftreten können.“

Roger Wirion & Sylvie Paquet

Die Zahlen sprechen mittlerweile eine eindeutige Sprache. 350 bis 400 Millionen Menschen sind weltweit an Typ-2-Diabetes erkrankt. Er macht also gut 90 Prozent – beim Typ 1 sind es um die acht bis zehn Prozent – aller diagnostizierten Fälle aus. Laut Zahlen des Gesundheitsministeriums haben um die 30.000 Menschen in Luxemburg Diabetes. Das Tückische am Typ 2 sei, dass der Weg bis zur Diagnose sehr lang sein kann. „Viele Menschen wissen nicht, dass sie erkrankt sind. Manche sind es jahrelang, ohne tatsächlich Schmerzen zu haben.“ Mit dem Alter schreitet die Erkrankung voran und die Symptome werden so stark, dass sie der jeweiligen Person irgendwann doch auffallen. Wirion betont, dass es in solchen Fällen umso wichtiger sei, „sofort nach der Entdeckung der Erkrankung mögliche Komplikationen zu überprüfen. Je früher, desto schneller kann noch etwas unternommen“ oder die eventuellen Schäden eingeschränkt werden. Präventiv handeln statt ignorieren laute hier die Devise. 

„Viele Menschen wissen nicht, dass sie erkrankt sind. Manche sind es jahrelang ohne tatsächlich Schmerzen zu haben.“

Dr. Roger Wirion, Diabetologe und langjähriges Mitglied der ALD

Laut Paquet suchen vor allem Typ-2-Diabetiker*innen die Maison du Diabète auf. Hinzu komme, dass viele Betroffene sich schwertun, ihre Erkrankung so einfach zu akzeptieren. „Viele Menschen werden wütend und meinen: ‚Wie soll ich etwas akzeptieren, das ich nicht selbst zu verantworten habe und das mir aufgedrängt wurde?‘ Das eigene Leben wird komplett auf den Kopf geworfen. Einige können diese Umstellung besser akzeptieren als andere.“ Sie meint, dass diese weitere große Unbekannte – die konkrete Herkunft der Erkrankung – ebenfalls ein Problem sein könne. „Die Forschung war mehrere Male ganz nah dran, ein Heilmittel zu finden. Immer wieder hat diese kurzweilige Freude jedoch in einer weiteren Niederlage resultiert. Das kann sehr frustrierend für alle Betroffene sein, obwohl Typ-1-Diabetiker, die vor Jahren ihre Diagnose bekamen, bestimmt bezeugen können, dass sich in 100 Jahren Insulin (das Hormon wurde 1921 entdeckt, d. Red.) sehr viel getan hat.“

In Luxemburg werden jegliche Kosten in Zusammenhang mit Diabetes generell von der Krankenkasse (CNS) übernommen. „Natürlich bestehen bestimmte Bedingungen, um zu kontrollieren, ob alles seine Richtigkeit hat und nichts verschwendet wird. In dem Punkt sind wir schon sehr verwöhnt und die CNS lässt weitgehend mit sich sprechen.“ Bei (neuen) Technologien – Pumpen oder Sensoren beispielsweise – hänge es unterdessen auch an den großen Firmen, ob diese in Luxemburg überhaupt erhältlich sein werden. „Falls ihnen der luxemburgische Markt zu klein erscheint, kann es sein, dass sie keine Autorisation erteilen.“ Somit liege es nicht ausschließlich an der CNS. In anderen Teilen der Welt präsentiere sich ein differenziertes Bild. „Insulin ist ein lebenswichtiges Medikament, das nicht für jeden zugänglich ist. In Luxemburg ist uns das nicht immer bewusst, aber in den USA können viele Menschen nicht mehr behandelt werden. Sie können es sich nicht leisten.“ Millionen Menschen, die keinen Zugang zum lebenswichtigen Hormon haben. Dies sei nicht nur dem kaputten, amerikanischen Gesundheitssystem geschuldet: Einigen Pharmaunternehmen bringe das Geschäft mit dem Diabetes viel Geld ein – eine Kritik, die auch von Claudia vor der Kamera des Lëtzebuerger Journal geäußert wurde.

Diskriminierung

Ein anderes Problem sei die Diskrimination gegenüber Diabetiker*innen – auch in Luxemburg ein Thema. Sylvie Paquet nennt als Beispiel die Arbeitswelt. „Natürlich kann nicht gesagt werden: ‚Wir möchten Sie hier als Diabetiker nicht, weil sie ständig krank sind‘“, aber die Realität sehe anders aus, meint auch Roger Wirion. „Kann zwischen einer Person mit Zucker und einer ohne gewählt werden, ist oft klar, für welche sich entschieden wird.“ Zumal seien es Diabetiker*innen, die besonders auf sich aufpassen, weil sie dies ohnehin tun müssen. Laut Paquet müsse immer wieder auf diese Ungerechtigkeit aufmerksam gemacht werden. „Man hört hintenherum, dass so etwas immer noch passiert“, fügt Paquet hinzu. Für verschiedene Berufsgruppen bestünde weiterhin die Annahme, dass ein*e Diabetiker*in für diese Arbeit nicht geeignet sei. „Natürlich gibt es Bereiche, in denen es gefährlich werden kann, aber mit den neuen Technologien hat sich die Situation verändert. Warum soll ein Typ-1-Diabetiker dieses und jenes nicht machen können? Es sollte eher geschaut werden, wie alle integriert werden können.“

„Viele Menschen werden wütend und meinen: ‚Wie soll ich etwas akzeptieren, das ich nicht selbst zu verantworten habe und das mir aufgedrängt wurde?‘ Das eigene Leben wird komplett auf den Kopf gestellt.“

Sylvie Paquet, Ernährungsberaterin und Leiterin der Maison du Diabète

Während des Gespräches spricht Roger Wirion einen Punkt an, der ganz allgemein seit langer Zeit in Luxemburg für Kopfzerbrechen sorgt: die psychologische Versorgung. Er plädiert für eine Betreuung, die zu einem gewissen Maß finanziell rückerstattet wird. „Wir sagen immer, dass Typ-1-Diabetiker in der Lage sind, ein normales Leben zu führen, und das stimmt auch. Es ist trotzdem ein Einschnitt, denn ein normaler Alltag ist nur möglich, wenn sie mehr als andere auf sich Acht geben.“ Erhält eine Person ihre Diagnose und realisiert, was dies bedeutet und alles mit sich bringt, könne dies eine große psychologische Belastung mit sich bringen. „Die psychologische Betreuung von chronischen Erkrankungen ist noch immer das Stiefkind. Da muss noch etwas passieren.“ Laut Wirion habe sich ein Aspekt besonders verbessert. „Diese Idee, dass Diabetes eine beschämende Krankheit sei und Betroffene sich verstecken müssten. In all den aktiven Jahren in der ALD können wir sagen, dass sich das dramatisch verbessert hat. Heutzutage gibt es kaum jemanden, der sich deswegen versteckt.“