Editorial: Wie viele Jos Nickts werden folgen?

Von Misch Pautsch

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Das Kassationsgericht hat entschieden, dass RTL den Namen "Jos Nickts" nicht mehr nennen darf. Dabei beruft es sich auf das "Recht auf Vergessen" – etwas, das die Opfer, denen Jos Nickts 14 Millionen Euro gestohlen und immer noch nicht erstattet hat, sicherlich nicht getan haben. Welche Namen dürfen wir als Nächste nicht mehr schreiben? 

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Der Brief von Jos Nickts' Anwalt war schneller als die RTL-Reportage selbst: Noch bevor der Rückblick zum 15. Jubiläum der Affäre "Jos Nickts" ausgestrahlt wurde, forderte dessen Anwalt den Fernsehsender auf, dies zu unterlassen. Sein Mandant sei in Rente, habe seine Strafe abgesessen und sich aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen, hieß es. Der Name von Jos Nickts, der 2007 in zweiter Instanz zu sechs Jahren Gefängnis (davon zwei auf Bewährung) verurteilt wurde, weil er in seiner damaligen Funktion als Präsident der Briefträgergewerkschaft 14 Millionen heutige Euro stahl und sich damit eine Villa auf Mallorca, mehrere Luxusautos und eine Yacht kaufte, dürfe darum in der Sendung nicht genannt werden. Er pochte auf sein Recht auf Vergessenwerden. Etwas ironisch vor dem Hintergrund, dass er selbst zusammen mit Lucien Czuga 2007 ein Buch zum Fall veröffentlicht hat – eine Geste, die gemeinhin eher nicht als Wunsch, "vergessen zu werden", verstanden wird.

Zurück zur RTL-Reportage: Sie wurde trotz Warnung ausgestrahlt – samt Namen. Jos Nickts, der scheinbar nicht mit dem Streisand-Effekt vertraut war, ging erneut vor Gericht – dieses Mal auf der Klägerbank. Für viele Luxemburger*innen dürfte es das erste Mal gewesen sein, dass sie seinen Namen hörten.

Am Donnerstag hat das Kassationsgericht ihm in letzter nationaler Instanz recht gegeben: RTL darf weder den Namen Jos Nickts noch Videomaterial, noch neue oder alte Fotos aussenden. Mit dem Urteil hat das Gericht, wie RTL-Anwalt Me Urbany im 100,7-Interview sagt, die Büchse der Pandora geöffnet. Wie viel luxemburgische Geschichte gerät muss durch das Urteil "vergessen" werden? Nicht nur retroaktiv, sondern auch in die Zukunft gerichtet: Denn Nickts hat seinen ersten Brief bereits vor der Veröffentlichung der Reportage geschickt. Wäre ich der "Bommeleeër", würde ich heute schon die Briefe an alle Medienhäuser vorbereiten, sollte meine Identität – so unwahrscheinlich es auch ist – je vor Gericht auffliegen. Lang genug her ist es ja, auf jeden Fall deutlich länger als 2007.

Denkt man die Argumentation des Gerichts konsequent zu Ende, stehen wir vor einer absurden, aber juristisch plötzlich realen Frage: Welche Namen sind als Nächste tabu? Al Capone? Bernie Madoff? Jérôme Kerviel? Richard Nixon? Sogar Marc Dutroux? Auch sie haben ihre Taten vor Jahrzehnten begangen. Auch Madoff oder Kerviel haben ihre Strafen verbüßt und hätten sich nach dem Gefängnis sicher nichts sehnlicher gewünscht, als dass die Welt ihre Namen vergisst. Wo ziehen wir die Grenze? Ab wann wird das legitime öffentliche Interesse an einem historischen Finanzskandal durch den privaten Wunsch nach Ruhe ausgestochen? Wenn das Kriterium allein ist, dass eine Tat lange her ist und der*die Täter*in seine*ihre Ruhe will, dann wird aus dem Recht auf Vergessen schnell eine Pflicht zur Geschichtsverfälschung. Ab wann sollen wir vergessen? Ab wann müssen wir vergessen? Ab wann müssen Journalist*innen Angst haben, Namen zu nennen?

"Ab wann sollen wir vergessen? Ab wann müssen wir vergessen? Ab wann müssen Journalist*innen Angst haben, Namen zu nennen?"

Die Beispiele mögen teilweise überspitzt sein. Doch sie sind leider bei Weitem nicht so weit von "absurd" entfernt, wie gesunder Menschenverstand es nahelegen sollte. Ab wann kann Nicolas Sarkozy sein Recht auf Vergessen einklagen? Genau wie Jos Nickts konnte er seine finanziellen Verbrechen nur ausüben, weil er auf einen öffentlichen Posten gewählt wurde. Ab wann müssen wir vergessen, dass Anders Behring Breivik 69 Personen, davon 33 Kinder, getötet hat? Er war vor seinem Massenmord eine Privatperson und würde dies wohl auch sehr gerne wieder sein, wie er regelmäßig erfolglos vor Gericht argumentiert.

Es sollte selbsterklärend sein, dass hier keine Parallelen zwischen der Schwere der Verbrechen gezogen werden. Dass es nicht einfach ist, die Linie zwischen Privatleben und Pressefreiheit abzustecken, ist klar. Doch mit dem Urteil muss die Frage gestellt werden, wie weit diese Grenze in den Augen des Gerichts Richtung Täterschutz verschoben werden soll, kann und darf. Denn so sehr unser kollektives Zeitgefühl seit einigen Jahren Kopf steht: 2007 ist nicht so lange her. Und Jos Nickts' Opfer sind bis heute nicht alle komplett finanziell kompensiert worden. Ob sie dieses Kapitel auch vergessen wollen?

Einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt auch die Feststellung, dass die Affäre Nickts ursprünglich eine Finanzaffäre ist. Diese werden in Luxemburg immer noch gerne heimlich, still und leise hinter verschlossenen Türen gehandhabt. Viele kommen durch außergerichtliche Abkommen nie ans Licht. Und selbst wenn sie vor Gericht landen, sind die Namen und Unternehmen in den Urteilen unkenntlich gemacht. Es ist einer der Gründe, warum Luxemburg national und international den Ruf hat, den wir haben und – wegen solcher Entscheidungen – zurecht nicht loswerden. Denn wieder einmal machen wir Schlagzeilen mit einer gerichtlichen Entscheidung, die einen Täter finanzieller Kriminalität schützt. Kannst du, liebe*r Leser*in, auch nur eine Person nennen, die in Luxemburg wegen Finanzverbrechen verurteilt wurde? Außer ihm, dessen Namen nicht genannt werden darf?

Es ist gleichzeitig ein Lackmustest für die Luxemburger Presselandschaft: Denn das Gerichtsurteil bezieht sich allein auf CLT-UFA, also RTL. Alle anderen Medien und Privatpersonen sind vogelfrei – bis auch bei ihnen ein Brief vom Anwalt landet, der sich auf einen bequemen Präzedenzfall berufen kann. Doch das wäre, sicherlich, ein guter Anlass für einen weiteren Artikel, in dem es dann nicht um Jos Nickts, sondern um einen total anonymen ehemaligen Präsidenten der Briefträgergewerkschaft FSFL geht.

Misch Pautsch ist Präsident der luxemburgischen Journalistenassoziation ALJP