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Von Misch Pautsch

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Wenn ich auf 2025 zurückschaue, sehe ich das Jahr, in dem die ominöse "KI" zur gesellschaftlichen Gefahr geworden ist. "Realität" im Internet ist nun die Ausnahme. Umso befreiender ist eine Rückbesinnung auf das Analoge, das Echte. 

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Pol schiebt sein zerkratztes Handy über den Tisch. Es kann telefonieren, SMS schicken und hat eine 1,3 Megapixel Kamera. Seit über zehn Jahren hat er dieses eine gelbe Nokia in der Tasche – länger als die meisten von uns drei, vier, fünf … sechs … Smartphones besitzen. Pol ist kein technophober Eremit, aber er schätzt seine Zeit offline. Soziale Medien und E-Mails warten, bis er am Computer sitzt.

Als ich aufgewachsen bin, existierte das Internet einem bestimmten Ort und einer bestimten Zeit: am Familiencomputer in der Mitte des Wohnzimmers, während niemand das Telefon brauchte. Heute fallen vor allem die Momente auf, in denen der Wurm in der Leitung ist. Pausen in der Omnipräsenz.

Der Normalzustand des von den Social-Media Titanen dominierten Web 3.0 ist ein bunter, süß-saurer Fiebertraum, in dem man einen Moment ein süßes Katzenvideo sieht und im nächsten ein verhungerndes Kind. Eine perfekt kalibrierte Zeitfressmaschine mit dem einzigen Ziel, unsere Aufmerksamkeit zu kapern.

Wie viele der Bilder und Videos im Feed echt sind, ist ab diesem Jahr nicht mehr mit dem menschlichen Auge zu unterscheiden. Wer heute noch glaubt, KI-Fotos und Videos zu erkennen, lebt in einer gefährlichen Illusion. Die Zukunft sozialer Plattformen ist synthetischer Content, der nur noch existiert, um unsere emotionalen Knöpfe zu drücken. Freude, Ekel, Trauer, Wut, Mitleid, Hass – waren sie bisher Reaktionen auf Erfahrenes, sind sie heute Prompts, um die Erfahrung im Bildgenerator zu erstellen.

Ich fluche. In einem stockdunklen Raum suchen meine Finger den Anfang der Filmrolle. Die letzten paar Zentimeter wollen einfach nicht in die Befestigung passen – ich schneide sie ab. Keine Ahnung, wie viele Fotos das gekostet hat… Zwanzig Minuten später füllt ein leicht beißender Geruch der Entwicklungschemikalien die Küche. Langsam ziehe ich den Film aus der Rolle, halte ihn gegen das Licht. Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich Negative, die ich selbst gemacht habe. Sie sind keine Meisterwerke, aber jeder Moment davon ist passiert. Wirklich. 32 von 36 möglichen Fotos, nicht schlecht. Ich denke an Pol und sein Handy.

Die Counter-Culture Bewegung zurück zum Analogen ist nicht neu. Vinyl-Platten, überteuerte Retro-Filmkameras und Dumb-Phones sind so hip, dass sie fast schon wieder out sind. Manche Sorten Foto-Film sind zum Spekulationsobjekt geworden. Papierbücher überschatten E-Books immer noch. Ein großer Teil der Bewegung ist der Wunsch, physische Dinge zu besitzen, statt nur digitale Kopien zu mieten. Doch immer wichtiger wird der Überdruss an der digitalen Übersättigung, eine Rückbesinnung auf das "richtige" Leben "da draußen", echte Kontakte oder, wie Pol sagt: "Ich denke, wir sind als Gesellschaft durch Handys weniger sozial geworden, weil es zwischenmenschliche Interaktionen stört."

Soziale Medienplattformen – und mit ihnen das ganze Internet – geben sich gerne als Orte, um das eigene Leben mit anderen zu teilen. Doch diese Illusion zerplatzte spätesdens im Moment, als Meta öffentlich mit der Idee gespielt hat, die Feeds mit KI-Charakteren zu füllen, weil die User selbst immer weniger Fotos ihres Lebens hochladen. Auch wenn diese Pläne (nach eigenen Aussagen) doch nicht umgesetzt wurden, hält dies andere Akteure nicht davon ab, ihre eigenen Bots und KI-Inhalte zu teilen. Wollen die Leute auf einer Plattform sein, auf der man sich bei jedem Bild, jedem Video und Kommentar die Frage stellen muss: Ist das wirklich passiert? Hat ein Mensch das geschrieben, gemacht, gesehen und gefilmt?

Es wird interessant zu sehen, ob sich mit der zunehmenden Anti-Realität der Online-Welt diese Sehnsucht nach dem Echten weiter verbreiten wird, oder ob die Emotionshülsen reichen werden, um das Web 3.0 weiter bestehen zu lassen. Bis dahin können wir von den Smartphone-Rebellen, die trotz vieler kleiner Herausforderungen etwas analoger leben als der Rest von uns, eventuell etwas lernen. Zurück in eine Welt finden, in der nur 32 von 36 Fotos etwas werden, sie aber sicher wirklich passiert sind. Ich bin kein technophober Eremit, aber ich schätze meine Zeit offline.