Erinnerungen einer Generation: Rückblick auf den Zweiten Weltkrieg
Von Laura Tomassini, Misch Pautsch, Maxime ToussaintDiesen Artikel hören
Immer weniger Luxemburger*innen können sich noch aus erster Hand an die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges erinnern. Laura Tomassini hat sich auf die Suche nach den letzten Zeitzeug*innen von damals gemacht und mit ihnen über eine Zeit gesprochen, die sie und die ganze Welt für immer geprägt hat.
Déi lescht Zäitzeien
*auf Luxemburgisch
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Genau 80 Jahre ist es her, dass am heutigen Tag, dem 16. Dezember 1944, die deutsche Wehrmacht die Ardennen-Offensive, auch "Battle of the Bulge" oder Rundstedt-Offensive, im Norden Luxemburgs und Osten Belgiens startete. Über 10.000 amerikanische Soldaten ließen damals im letzten Kampf gegen Nazi-Deutschland ihr Leben und auch 500 luxemburgische Zivilist*innen sollten den bis Ende Januar 1945 dauernden Angriff nicht überleben. Er sollte als einer der blutigsten des Zweiten Weltkrieges in die Geschichte eingehen.
80 Jahre ist es aber auch her, dass Luxemburg offiziell durch die Alliierten vom deutschen Besatzer befreit wurde, dies in mehreren Etappen. Am 9. September 1944 zogen die ersten Amerikaner über Petingen ins Land – die erste Stadt war frei. Es folgte die Hauptstadt und fünf Tage später lag das gesamte Großherzogtum in amerikanischen Händen. Man hatte die Nazis erfolgreich vertrieben – so zumindest die Hoffnung der Bevölkerung. Am 16. Dezember dann der oben genannte letzte Gegenangriff der Deutschen. Kurz vor Weihnachten waren Städte wie Diekirch und Ettelbrück im Luxemburger Norden dann wieder frei.
Die letzten Zeitzeug*innen
So wirklich zu Ende ging der Zweite Weltkrieg allerdings erst mit der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde seitens der Deutschen am 9. Mai 1945, fast fünf Jahre also, nachdem das Regime der Nationalsozialisten die Macht in Europa an sich gerissen hatte. Die Generation, die die Gräueltaten der Nazis direkt miterlebte, ist jene unserer Großeltern. Nur wenige Zeitzeug*innen sind noch am Leben, um von den Geschehnissen von damals zu berichten. Umso wichtiger ist es, den Verbliebenen zuzuhören, ihre Erzählungen festzuhalten und an das, was damals geschah, zu erinnern, damit die Geschichte niemals in Vergessenheit gerät.
Einer, der sich noch gut an die Jahre 1940 bis 1945 erinnert, ist der heute 97-jährige Léon Letsch. Als im Mai 1940 der Krieg auch Luxemburg erreichte, veränderte sich das Leben seiner Familie abrupt. Mehrfach wurden deutsche Offiziere im Haus der Letschs einquartiert; ihr Café nutzten die Soldaten als Rückzugsort zwischen den Kämpfen. Während Letsch selbst noch zu klein war, um in der Wehrmacht zu dienen, wurde sein Bruder Raymond eingezogen. "Er kam zuerst sechs Monate in den Reichsarbeitsdienst nach Bettemburg, danach dann zur Soldaten-Grundausbildung ins deutsche Itzehoe", erinnert sich Letsch.
Léon Letsch
Marianne Reuter-Scmitz
Nachdem Raymond in mehreren Ländern der Wehrmacht diente, wurde er wegen "hochverräterischer Betätigung" von den eigenen Reihen verhaftet und ins Wehrmachtsgefängnis nach Torgau gebracht. Ganze 14 Monate saß er dort und wartete auf seine geplante Hinrichtung, bevor er aus Mangel an Zeugen wieder in die Wehrmacht "entlassen" wurde. Seine Familie sollte der Luxemburger nie wiedersehen, denn er starb am 26. Januar 1945 an einer Kriegsverletzung in der Schlacht zwischen der sowjetischen Roten Armee und der deutschen Wehrmacht um Budapest.
"Erst nach dem Krieg erfuhren wir, dass der Sohn eines Freundes meines Vaters meinen Bruder verraten hatte, weil er dachte, ihm würde als Wehrmachtssoldat nichts passieren. Dieser war von den Deutschen bei einem Treffen einer Luxemburger Unterorganisation in Mamer geschnappt worden und hatte angegeben, mein Bruder sei auch dort gewesen. Deshalb landete Raymond im Gefängnis", erklärt Letsch die Geschehnisse.
Mit zitternder Stimme erzählt der 97-Jährige von den schweren Zeiten, die seine Familie durch den Krieg erleiden musste, hin und wieder erinnert er sich aber auch mit einem Lächeln an die guten Momente, als die Alliierten Luxemburg befreiten. "Ich konnte etwas Englisch und habe oft Vermittler gespielt", meint Letsch mit einem Schmunzeln. Er sei mit den Amerikanern zur Jagd gefahren, habe ihnen beim Kartenspiel im Café über die Schulter geschaut und mit ihnen "Schokelaskaffi" getrunken. Die schlimmen Bilder des Krieges machen diese Erinnerungen aber nicht wett: "Es waren harte Jahre. Heute noch kann ich oft nicht schlafen, weil mir die Dinge immer noch vor Augen schweben."
"Ich glaube, wir waren zwar noch zu klein, um alles zu verstehen, aber die Zeit hat uns doch alle geprägt."
Ely Keipes-Remy (89)
Auch die 96-jährige Marianne Reuter-Schmitz war bereits im Teenager-Alter, als die Nazis in Luxemburg einfielen und erlebte die Konsequenzen im eigenen Alltag. Anstatt zur Schule zu gehen, musste sie in einer Fabrik für Herrenhemden arbeiten. Ihr Vater, ein aktives Mitglied der "Lëtzebuerger Vollekslegio'n"-Resistenzgruppe, wurde verhaftet und ihr Bruder, Jahrgang 1924, eingezogen. "Als er an die Front sollte, half mein Onkel, ihn zu verstecken", erinnert sich Reuter-Schmitz. Der erste Bekannte, bei dem ihr Bruder unterkam, wurde jedoch geschnappt, während der Geflüchtete unter dem Boden lag. Die zweite Familie, bei der er aufgenommen wurde, hatte nach fünf Monaten zu viel Angst um die eigene Sicherheit und schickte ihn fort. Erst die dritten Helfer, bei denen der Fahnenflüchtige schließlich bleiben konnte, hatten selbst einen Sohn in Russland verloren, so dass sie das Leid der Familie verstanden.
"Mein Onkel aber wurde verraten und kam ins Lager nach Hinzert, wo er auch starb", so Reuter-Schmitz. Zusammen mit ein paar Freundinnen verfasste die heute 96-Jährige das Buch Une classe de lycée dans la tourmente 1940-1947, in dem sie diese sowie zahlreiche andere Erinnerungen festhielt. "Mein Vater war 30 Monate im Konzentrationslager in Natzweiler und als er wiederkam, war er körperlich und gesundheitlich so angeschlagen, dass er nie wieder arbeiten konnte", erzählt die Seniorin. Auch ihr späterer Schwiegervater wurde ins KZ nach Mauthausen verschleppt, da er gemeinsam mit Reuter-Schmitz' Vater sowie einem dritten Arbeitskollegen in der Resistenz war.
Ely Keipes-Remy
Josée Juncker-Schuler
Gilberte Schockweiler-Dondelinger
"Jedes Jahr bin ich nach dem Krieg nach Natzweiler, denn die Erinnerungen an damals sind immer geblieben", so die 96-Jährige. Eine andere Zeitzeugin, Ely Keipes-Remy, hat zwar keinen geliebten Menschen verloren, muss aber dennoch ihre Tränen runterschlucken, wenn sie an den Zweiten Weltkrieg denkt. Als die Nazis die Heimat der 1935 Geborenen überfielen, war sie gerade mal fünf. Dennoch erinnert sie sich gut an die vielen Male, als sie mit Sack und Pack in den Wald laufen musste, da wieder einmal Brandbomben fielen. "Die Kirche sowie die Schule für Mädchen sind damals komplett verbrannt", so Keipes-Remy.
In ihrem Zuhause nahe des damaligen Schwimmbads Gantenbeinsmillen schlief die Familie mit den vier Kindern auf Matratzen im Wohnzimmer, um schneller im Keller oder aus dem Haus zu sein, sollten die Deutschen erneut Bomben werfen. Keipes-Remys Vater musste mehrmals in die städtische Villa Pauly, die damals der deutschen Gestapo (Geheime Staatspolizei) als "Generalkommanditur", also Hauptquartier diente, weil er geholfen hatte, einen Jungen vor den Nazis zu verstecken.
Lange Zeit konnte die heute 89-Jährige keine Sirenen hören und noch heute wird sie emotional, wenn sie an den Krieg zurückdenkt. "Ich glaube, wir waren zwar noch zu klein, um alles zu verstehen, aber die Zeit hat uns doch alle geprägt", sagt die Seniorin. Wie ihr geht es ebenfalls Josée Juncker-Schuler, Jahrgang 1939, sowie Gilberte Schockweiler-Dondelinger, Jahrgang 1933, die sich noch an so manches aus dem Krieg erinnern. Während einige ihrer nahen Verwandten umgesiedelt oder in Konzentrationslager verschleppt wurden, kam Schockweiler-Dondelingers Familie selbst relativ glimpflich davon. "Meine Mutter stammte ursprünglich aus Fuhren und fuhr alle paar Monate in ihr Elternhaus, um aus dem Garten dort Gemüse und Obst mitzubringen, damit wir etwas zu essen zuhause hatten", erinnert sich die 91-Jährige.
Marcelle Hannes-Lamesch
Manette Lutz
Während der Ardennen-Offensive im Dezember flohen die Verwandten aus dem Norden ins Haus der Familie, denn dort war es sicherer als im Ösling. "Damals fielen so viele Bomben, dass die Toten aus den Gräbern gesprengt wurden und überall auf der Straße lagen", berichtet Schockweiler-Dondelinger, die diesen Anblick selbst Gottseidank nie sehen musste. Sie erinnert sich nur an vereinzelte Anekdoten, etwa die Bananen, die die amerikanischen Soldaten nach der Befreiung verteilten, oder wie ganze Familien das Land zuvor unfreiwillig hatten verlassen müssen: "In unserer Straße waren zehn Häuser von Deutschen besetzt und auch die Gendarmerie, gegenüber der wir lebten, war im Krieg in Nazi-Händen."
Eine Umsiedlung riskierte ebenfalls Juncker-Schulers Familie, denn nicht nur ihr Vater widersetzte sich den Regeln der Nazis, auch ihre Großmutter hatte so einige "Einwände" gegen das NS-Regime: "Als wir die deutsche Flagge aufhängen sollten, holte sie einen Besenstiel, stülpte die Fahne darauf und meinte, der wäre gerade gut genug dafür." Ihre ganze Familie sei, wie so viele Luxemburger*innen, Anti-Deutsch gewesen und habe auch aktiv gegen die Besatzer agiert. "Ich erinnere mich, dass mein Vater ein altes DKW-Cabriolet besaß. Aus Angst, die Deutschen würden sein Fahrzeug beschlagnahmen, ließ er von einem Mechaniker Teile ausbauen, so dass es nicht mehr fuhr. Als der Krieg dann zu Ende war, wurden die Teile wieder eingebaut und das Auto gehörte so ununterbrochen der Familie."
"Mein Vater war 30 Monate im Konzentrationslager in Natzweiler und als er wiederkam, war er körperlich und gesundheitlich so angeschlagen, dass er nie wieder arbeiten konnte."
Marianne Reuter-Schmitz (96)
An die Akte der Luxemburger Rebellion, so klein oder groß sie auch waren, denkt auch Marcelle Hannes-Lamesch häufig zurück. Als der Krieg ausbrach, war die 1925 Geborene ein Teenager, wusste aber dennoch Wege, sich gegen die Besatzer zu wehren: "Unsere Lehrer wurden alle durch Deutsche ersetzt. Meine Freundinnen und ich waren rotzfrech und widersprachen bei jeder Gelegenheit. Das haben wir als unsere kleine Resistenz empfunden", so die 99-Jährige. Auch in der Familie und Nachbarschaft wurde sich gewehrt, als so etwa einer der Jungen aus der Straße vor der Wehrmacht floh, schwiegen alle, denn keine*r hätte den Luxemburger verraten. "Er ist irgendwann als englischer Soldat wiedergekommen und wir haben ihn dann unter unsere Fittiche genommen", erinnert sich Hannes-Lamesch.
Das, von dem keine*r sprach
Sie selbst wurde auf Première ins Arbeitslager in der Eifel geschickt: "Das war eine Sauerei. Um uns einziehen zu können, wurden unsere Abschlussexamen vorverlegt und dort angekommen, mussten wir jeden Morgen die deutsche Flagge grüßen und Hitler-Lieder singen." Die junge Luxemburgerin hatte aber Glück im Unglück, denn sie musste "nur" in anderen Haushalten und auf Bauernhöfen helfen, während andere ein weitaus schlimmeres Schicksal erlitten: "Wir Mädchen waren ja alleine dort und alle im zeugungsfähigen Alter. Viele Soldaten haben sich an Luxemburgerinnen vergriffen, 'für den Führer'. Es sind danach zahlreiche Kinder zur Welt gekommen, die nicht einmal wussten, wo sie herkamen."
Sie selbst wäre während ihrer Zeit im Arbeitslager fast an einer Blinddarm-OP gestorben, da es nirgends Desinfektionsmittel gab, überlebte aber und weiß heute, wer alles noch knapp dem Tod entkommen konnte: "Der Ortsgruppenleiter schickte jeden Tag seine Frau ins Krankenhaus, um sicherzustellen, dass ich noch dort und auch wirklich krank war. Ein Arzt versprach mir, er würde mich verstecken und auch die Krankenschwestern waren alle sehr hilfsbereit. Heute bin ich mir sicher, dass eine von ihnen gar keine Pflegekraft, sondern Jüdin war, die man so versteckte. Das waren die Heldentaten des Krieges." Heldentaten, aber auch Schicksale, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen, dies betonen alle noch Lebenden, denn das, was sie vor 80 Jahren erfahren mussten, wünschen sie keinem – nicht einmal ihrem größten Feind.
Denise Emering