Diesen Artikel hören
Die Redaktion des Journal hat entschieden, X zu verlassen. Diese Entscheidung ist nicht nur ein politisches Statement, sondern vor allem eine Frage der Berufsethik.
Dieser Artikel wird dir gratis zur Verfügung gestellt. Wenn du unser Team unterstützen willst, schließe jetzt ein Abo ab.
Für Redaktionen ist die Präsenz auf sozialen Medien scheinbar ein Muss. Facebook, Tiktok, Linkedin, Instagram und X (ehemals Twitter) gelten als die Überholspur auf dem Informationshighway "Internet". Wer seine Leserschaft erreichen will, scheint auf diese Plattformen angewiesen zu sein. Twitter, das kürzlich durch ein schwarzes "X" ersetzt wurde, stand wie keine andere Plattform für schnelle Nachrichten. Auch die Redaktion des Journal sah sich, wie die meisten unserer Kolleg*innen in den Medien, gezwungen, diesen Dienst zu nutzen, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Nun haben wir uns, wie der britische The Guardian und die spanische La Vanguardia, entschieden, die Plattform zu verlassen.
Die Nützlichkeit von X stand für uns immer schon auf der Kippe. "Wie kann ich ein komplexes Thema auf 280 Zeichen herunterbrechen?" war wohl die am meisten gestellte Frage, wenn wir unsere Posts vorbereitet haben. Allzu oft war die Antwort: Gar nicht. Das mag für Breaking News hinnehmbar sein. Doch für unseren lösungsorientierten Ansatz, der eben genau darin besteht, ein Bullwerk gegen Übervereinfachung und ein Verfechter für Perspektivenvielfalt zu sein, war dies immer schon mehr schlecht als recht. Selten hatten wir bei einem Post das Gefühl, der Recherche hinter dem Artikel gerecht zu werden. X/Twitter war für uns alle vor allem eine Quelle von Frustration, beruflich und privat.
Trotzdem machten wir aus zwei Gründen weiter, einem pragmatischen und einem berufsethischen. Der pragmatische ist schnell erklärt: Twitter bringt Leser*innen auf die Internetseite. In Luxemburg zwar deutlich weniger als in anderen Ländern, aber hey, jedes Abonnement zählt. Doch die Kosten-Nutzen-Rechnung ist nie wirklich aufgegangen, selbst vor den vielen Änderungen des Algorithmus, der nachweislich toxischen und schädlichen Inhalt bevorzugt anzeigt.
"Aber spätestens mit der Ernennung von Musk ist die Plattform unwiderruflich zum Propagandaorgan für Donald Trumps kommende Administration geworden."
Wichtiger war für uns der zweite Grund: Wir dachten, unsere Artikel auf X zu posten sei unsere journalistische Pflicht. Wir sehen unsere Aufgabe darin, unsere Leserschaft über die Komplexitäten der Welt zu informieren, weil Perspektiven und Pluralität das Gegengift für Desinformation, Zersplitterung und Extremismus sind. Ein Teil dieser Aufgabe ist, den zerstörerischen Kräften nicht das Spielfeld zu überlassen, auch im Internet. Zu viele Online-Plattformen werden von populistischem Clickbait dominiert, unter anderem weil die Plattformen diesen Content fördern: Negativität bringt die Leute dazu, weiter zu scrollen. Wir wollten den User*innen also zumindest eine Alternative bieten: Wer X öffnet, sollte – jedem algorithmischen Gegenwind zum Trotz – eine kleine Chance haben, positiven Content zu finden. Jeder konstruktive Post, so sehr dieser auch vereinfacht werden muss, macht es unwahrscheinlicher, dass ein destruktiver angezeigt wird.
Die Ernennung von Elon Musk zu Trumps "Minister für Kostensenkungen" hat uns gezwungen, diese Herangehensweise seriös zu überdenken. Lange schon ist X Musks privates und politisches Sprachrohr, auf dem er mehr als eine Nachricht verbreitet hat, die ihn in Luxemburg wegen Verleugnung oder Aufruf zum Hass vor Gericht hätten stehen lassen. Aber spätestens mit seiner Ernennung ist die Plattform unwiderruflich zum Propagandaorgan für Donald Trumps kommende Administration geworden. Dies ist ein neuer Moment, selbst für eine Plattform, die mittlerweile notorisch dafür ist, eine Anlaufstelle für Verschwörungstheorien, Desinformation und Hassnachrichten zu sein.
Während die Besitzer hinter allen sozialen Medienplattformen politische, gesellschaftliche und vor allem wirtschaftliche Interessen vertreten, tut dies niemand mit der Offenheit und Aggressivität von Musk, der unverhohlen Deep-Fakes postet, gezielt und strategisch Lügen verbreitet und Fake News sät. Wir wissen, dass die Verwendung von sozialen Medien immer ein Deal mit dem Teufel ist. Aber auch hier gibt es Abstufungen. Keine andere Plattform hat die Regeln des guten Anstands so deutlich hinter sich gelassen, wie X. Sie weiter zu benutzen würde dieses Verhalten sowohl von Musk selbst, wie auch der Plattform als Ganzes legitimieren, so klein unser Beitrag dazu auch ist.
Zweitens ist unsere Relation zu sozialen Medien keine Einbahnstraße: Ja, wir posten, damit Leute unsere Artikel sehen. Doch indem wir dies tun, laden wir Leute auch dazu ein, die Plattform zu nutzen – schließlich könnte es ja sein, dass sie dort über einen unserer Artikel stolpern. Durch wie viele Hassnachrichten müssen sie vorher waten? Wie viel Desinformation müssen sie mental herausfiltern, bis sie etwas Positives sehen – nicht nur von uns, sondern generell? Vor jedem sehenswerten Post wartet ein Spießrutenlauf an Desinformation. Können wir akzeptieren, dass die schwindende Chance, positiven Content zu finden, ein Anlass ist, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit über toxischen zu stolpern? Können wir verantworten, dass wir auch nur einen kleinen Teil dazu beitragen, dass noch mehr Hass verbreitet und gesehen wird? Dass durch Werbung neben unseren Posts direkt demokratiefeindliche Bewegungen finanziert werden? Wir glauben: Nein.
Darum werdet ihr ab heute nichts mehr von uns auf X hören. Dies muss nicht endgültig sein: Wenn die Plattform wieder politisch neutral wird und konsequent Aufrufe zu Hass unterbindet, werden wir zurückkommen. Doch bis dahin laden wir euch ein, unsere Artikel auf Facebook, LinkedIn, Instagram oder ganz klassisch direkt auf journal.lu zu lesen.