Die Kameradebatte (Retro 12/12)

Von Bill Wirtz Für Originaltext auf Englisch umschalten

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Die Journal-Redaktion blickt auf 2021 zurück - Bill Wirtz macht den Abschluss. Die vergangenen zwölf Monate waren aufregend, herausfordernd und bereichernd und bedeuten gleichzeitig unseren ersten, digitalen Geburtstag. Zu diesem Anlass hat sich jedes Teammitglied den Beitrag ausgesucht, dessen Recherche oder Produktion sie oder ihn 2021 am meisten geprägt hat.

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Für mich war es ein aufregendes Jahr beim Journal: von einem Interview mit dem ehemaligen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker über den Brexit bis hin zu einer umfassenden Untersuchung eines Dokumentarfilms über Luxemburg und die Aufarbeitung des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan (mehr dazu in Kürze). Da ich gebeten wurde, den Artikel auszuwählen, der mich am meisten beeindruckt hat, muss ich mich für Kamera läuft entscheiden – meine Reportage über den (fehlenden) Einsatz von Body-Cams in der luxemburgischen Strafverfolgung.

Mein Artikel hat gezeigt, dass Luxemburg – im Gegensatz zu seinen Nachbarländern – bei der Einführung von Körperkameras zum Schutz der Integrität von Polizeibeamt*innen und zur Wahrung der Bürgerrechte zu spät dran ist. Sowohl Strafverteidiger*innen als auch Polizeibeamt*innen halten diese Kameras für unverzichtbar, aber für das zuständige Ministerium ist dieses Thema weiterhin keine Priorität. In diesem Zusammenhang hat mein Artikel sogar zu einer parlamentarischen Anfrage und einer Erklärung des zuständigen Ministers geführt.

Für mich persönlich hat diese Geschichte einen Nerv getroffen. In Gesprächen mit Anwält*innen habe ich erfahren, wie wenig Informationen die Gerichte haben und gleichzeitig benötigen, um in den Entscheidungsprozess einzugreifen, wenn weder Überwachungskamera noch Aufnahmen von Umstehenden verfügbar sind. Der Strafverteidiger und Strafprozessrechtsprofessor Sébastien Lanoue hat mir die erschütternde Realität mir vor Augen geführt, dass die Beweisaufnahme auf einem sehr niedrigen Niveau stattfindet: Es ist durchaus denkbar, dass heutzutage in luxemburgischen Gefängnissen Personen sitzen, die aufgrund von unzureichenden Beweisen verurteilt wurden. Ein alptraumhaftes Szenario, das aus Fernsehserien oder Krimifilmen bekannt ist.

„Sowohl der Journalismus als auch die Rechtsstaatlichkeit können am besten funktionieren, wenn es einen schriftlichen Beweis, eine Aufzeichnung (Audio oder Video) gibt, die belegen, was passiert ist.“

In meinem Beitrag ging es ebenfalls Dashcams in Privatfahrzeugen. Spoiler-Alarm: Die Antwort auf die Frage nach der Legalität dieser Kameras lautet: Es ist kompliziert. Der luxemburgische Gesetzestext bietet den Bürger*innen keinen ausreichenden Rechtsrahmen, um zu wissen, ob sie das, was auf der Straße passiert, auch filmen dürfen.

Das Problem wird deutlicher, wenn wir uns den rechtlichen Verfahren zuwenden, die es in Luxemburg derzeit nicht gibt. Das Justizministerium unter Felix Braz (déi gréng) hat das Thema zwar untersucht, ist aber aktuell mit der Analyse der rechtlichen und logistischen Praktiken beschäftigt. Rechtsexpert*innen haben mir erklärt, dass die derzeitige Methode (das heißt schriftliche Aufzeichnungen über das Verfahren) unzuverlässig ist, insbesondere wenn der Fall vor ein Berufungsgericht geht.

Sowohl der Journalismus als auch die Rechtsstaatlichkeit können am besten funktionieren, wenn es einen schriftlichen Beweis, eine Aufzeichnung (Audio oder Video) gibt, die belegen, was passiert ist. Die Tragödie, die sich dieses Jahr in Ettelbrück ereignete, als ein Mann von der Polizei erschossen wurde, nachdem er die Beamten mit einem Messer bedroht hatte, hat die Argumente für Videobeweise verstärkt, nicht zuletzt, weil die Videos von Umstehenden Einblick in den Fall gaben. Mit Body-Cams würden wir eine klarere Perspektive erhalten, was die Arbeit der Ermittler*innen und der Öffentlichkeit bei der Aufklärung des Geschehens gleichermaßen erleichtern würde.

Es sind Fälle wie diese, die schmerzlich unterstreichen, wie wichtig die Rechenschaftspflicht ist – ein Prinzip, das in beide Richtungen gilt.