Entgegen allen Prognosen

Von Sarah RaparoliLex Kleren

Diesen Artikel hören

Für Eltern, denen bei der Geburt ihres Kindes gesagt wird, dass dessen Lebenserwartung durch eine diagnostizierte Behinderung gering sei, bricht eine Welt zusammen.  Das Lëtzebuerger Journal hat zwei Familien getroffen, die von ihren Erfahrungen berichten und trotz schwerer Diagnose den Mut nie verloren haben.

Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Landes kann viel aussagen: medizinischer Fortschritt, hygienische Standards, Umwelteinflüsse, soziale Umgebung. Die Lebenserwartung kann auch durch ganz andere Faktoren beeinflusst werden: Wenn bei der Geburt eines Kindes Unregelmäßigkeiten auftreten und diese auf eine Erkrankung oder Behinderung hindeuten. So auch bei Romain.

Romain kam am 12. März 1990 auf die Welt. „Es hat nie wirklich etwas auf eine Trisomie hingedeutet“, erzählt Romains Mutter rückblickend. Bei der Geburt habe ein Verdacht bestanden und es seien Analysen angeordnet worden. „Uns wurde gesagt, dass wir in drei Tagen Bescheid wissen werden.“ Diese drei Tage der Ungewissheit beschreibt sie als gut – „dass der erste Kontakt auf diese Weise geschehen konnte. Die Geburt selbst ist schon stressig und aufregend genug“, meint die Mutter.

Pünktlich drei Tage später habe das Telefon geklingelt. Am Telefon habe der behandelnde Arzt nichts sagen wollen. „Dann weißt du bereits, dass die Nachricht nicht positiv ist.“ Danach hätten viele Fragen im Raum gestanden: „Wie organisieren wir uns? Schaffen wir das überhaupt als Paar?“ Die Mutter sei nicht mehr an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt, um voll und ganz für ihren Sohn da zu sein. „Mein Mann hatte größere Schwierigkeiten, diese neue Situation zu akzeptieren. Die damaligen Prognosen für Menschen mit Trisomie waren sehr schlecht – ich habe mir große Sorgen gemacht.“ Den Eltern sei mitgeteilt worden, dass Romains Lebenserwartung geringer sei und er gesundheitliche Probleme haben werde – viel mehr nicht.

Romain

„Fettleibigkeit könne eine negative Konsequenz sein. Zudem würde er weniger beweglich sein und er müsse einige operative Eingriffe über sich ergehen lassen.“ Letzteres sei auch der Fall gewesen. „Uns wurde gesagt, dass wir uns informieren könnten. Zu der Zeit hatten wir kein Internet, also musste viel in Büchern recherchiert werden. Das, was wir fanden, waren extrem schlimme Dinge.“ Einen Lichtblick habe es in dieser ersten Zeit gegeben. „Uns wurde zu Anfang mitgeteilt, dass unser Sohn ein Loch im Herz habe. Auf einmal hieß es, dass dieses Loch sich von selbst geschlossen habe.“

Stimmung im Kreißsaal änderte sich schlagartig

Annick ist mittlerweile 33 Jahre alt und wurde ebenfalls mit Trisomie 21 geboren. Laut ihrer Mutter Josiane habe zu keinem Moment der Verdacht auf eine Erkrankung bestanden. „Bei der Geburt herrschte eine lockere Stimmung. Als sie draußen war, änderte sich dies schlagartig. Ich bekam sie nur kurz zu sehen und weg war sie.“ Danach habe es immer wieder geheißen, dass weitere Tests durchgeführt werden müssten. „Plötzlich stand der Verdacht auf Gelbsucht im Raum, etwas, das bei Kaiserschnitten öfter vorkommen kann. Deshalb könne ich mein Kind nicht bei mir haben.“ Eine Krankenschwester habe sich sehr um ihre Tochter gekümmert, dennoch sei sie immer wieder „für weitere Tests“ mitgenommen worden.

Kurze Zeit später ging es für beide nach Hause, dann zum ersten Kontrolltermin bei der behandelnden Kinderärztin. „Sie war genervt und sagte in einem sehr schroffen Ton, dass sie uns etwas mitteilen müsse. Sie habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute sei, dass Annick keinen Herzfehler habe.“ Ihr Mann habe nach der schlechten Nachricht gefragt und die Ärztin antwortete: „Das Kind hat eine Trisomie 21.“ Von der Ärztin bekamen die Eltern ein Faltblatt in die Hand gedrückt. „Zusätzliche aufgeklärt hat sie uns nicht. Ich erinnere mich aber noch, wie sie sagte, dass es für ‚so etwas‘ keine spezielle Anlaufstelle gebe. Beruhigende Worte kamen nicht aus ihrem Mund“, erinnert sich Josiane und schüttelt mit dem Kopf.

„Die Ärztin sei sich anfangs nicht sicher gewesen und habe uns deshalb nicht früher informiert. Sie hat sich damit gerechtfertigt, dass es ihr erster Trisomie-Fall gewesen sei.“

Josiane, Annicks Mutter

Die Lebenserwartung in Luxemburg habe sich laut Dr. Fernand Pauly in den letzten Jahren hervorragend weiterentwickelt. „Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Als ich geboren wurde, lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei 65 Jahren. Mittlerweile sind wir bei um die 80 Jahre angekommen. Dies gilt für einen Mann, der hier im Land zur Welt kommt.“ Dieser bekam also zusätzliche Jahre, ohne wirklich etwas dafür getan zu haben, erklärt Dr. Pauly. Bei Frauen liegt die durchschnittliche Lebenserwartung in Luxemburg laut Statec bei 84,6 Jahren.

Durch Corona sei die Lebenserwartung etwas gesunken, „weil einzelne Menschen früher als erwartet gestorben sind“, betont der Arzt. Gleichzeitig seien enorme Fortschritte erzielt worden. „Die Lebenserwartung bei Mukoviszidose (angeborene Stoffwechselerkrankung, bei der zäher Schleim in den Zellen entsteht und lebenswichtige Organe nach und nach verstopft, d. Red.) ist unheimlich gestiegen. Wir haben seit gut vier Jahren Behandlungen, die viel wirksamer sind.“ Heißt nicht nur Lebensbedingungen, Veranlagung und Umwelt haben einen Einfluss, auch der medizinische Fortschritt trägt seinen Teil dazu bei. Die Lebenserwartung bei einer Mukoviszidose liege mittlerweile bei über 50 Jahren.

Lebenserwartung, Lebensperspektive, Lebensqualität

So sehr dies den Arzt freut, bringe der Fortschritt auch eine Kehrseite mit sich. „Die Eltern möchten gerne wissen, was in 30 oder 40 Jahren aus ihren Kindern wird … aber ich weiß nicht, welche Fortschritte die Medizin bis dahin machen wird.“ Die Medizin wisse vieles, aber genau so vieles sei noch immer nicht geklärt. „Diese Komplexität des Nichts-Wissens ist für die Menschen schwer zu erfassen. Es ist verständlich, dass sie alles wissen möchten, aber leider ist das nicht immer möglich“, gibt Dr. Pauly zu bedenken. Diese Spekulation, wie der Arzt es beschreibt, stelle Mediziner*innen vor viele Fragen. „Was sage ich den Eltern, wenn es sich zum Beispiel um eine Trisomie handelt? Soll der bestmögliche oder durchschnittliche Ausgang beschrieben werden?“ Damit meint der Arzt, dass das Downsyndrom bei einigen Menschen stärker oder schwächer als bei anderen ausgeprägt ist und nicht verallgemeinert werden könne.

Annick

Er gibt ein konkretes Beispiel. „Ich sehe in der 18. Schwangerschaftswoche, dass der Kopf etwas kleiner als gewöhnlich aussieht. Möglicherweise hat er sich bis zu 22. Woche gut weiterentwickelt. Muss ich meine Beobachtung sofort mitteilen oder soll ich warten? Darauf gibt es keine allgemeingültige Antwort.“ Nach der Geburt werden Testes durchgeführt, so unter anderem beim sogenannten Neugeborenen-Screening. Diese Tests sind jedoch nicht verpflichtend. „In meinen Augen müssten wir die Kinder auf zusätzliche Erkrankungen untersuchen (wie das Lëtzebuerger Journal bereits berichtete, soll das Screening erweitert werden, d. Red.). Aber wie weit können wir gehen? Wenn wir viele Tests durchführen, verpflichten wir uns als Gesellschaft dazu, später nach diesen Kindern zu schauen und sie zu unterstützen“, ergänzt Dr. Pauly.

Als Mediziner*in sei es eine äußerst schwere Situation. „Es ist ein Zustand der Unsicherheit und des Dilemmas: Man steht zwischen dem Wohlbefinden des Fötus und der Aufklärungspflicht des Arztes.“ Zudem existieren Ausbildungen für Ärzt*innen, diese seien jedoch nicht obligatorisch. Eines stehe für Dr. Pauly jedoch zu 100 Prozent fest: Es sei wichtig, Perspektiven zu liefern und den Eltern zu sagen, was ihr Kind trotz Krankheit im Stande ist zu tun, anstatt nur von dem zu sprechen, das nicht möglich ist. „Auf keinen Fall sollen falsche Hoffnungen geschürt werden, aber den Eltern muss etwas gegeben werden, an dem sie sich festhalten können.“ Zusätzlich solle erklärt werden, was mit dem medizinischen Fortschritt alles möglich ist. Abschließend meint der Kinderarzt: „Wenn die Lebenserwartung kurz ist, müssen die Tage mit umso mehr Leben gefüllt werden.“

Josiane, Annicks Mutter

Die Eltern hätten sich allein gelassen – „verloren“ – gefühlt, berichtet Josiane, Annicks Mutter. „Die Ärztin sei sich anfangs nicht sicher gewesen und habe uns deshalb nicht früher informiert. Sie hat sich damit gerechtfertigt, dass es ihr erster Trisomie-Fall gewesen sei.“ Nach einem weiteren Gespräch mit dem Gynäkologen – Josiane beschreibt diesen Austausch ebenfalls als „komplett daneben“ – ging es für die Eltern nach Hause. „Wir haben nur noch geweint.“ Sie hätten sich gefühlt als sei ihnen auf den Kopf geschlagen worden. „Wir sind in ein Loch gefallen und es war für uns schwer, das Ganze zu akzeptieren – deshalb haben wir anfangs keinem davon erzählt.“

Fehlendes Einfühlungsvermögen der Ärzt*innen

Josiane kommt auf ihre Aussage, dass auch das Gespräch mit dem Gynäkologen nicht so lief, wie es sollte. „Das war sofort nach dem Termin bei der Pädiaterin. Er fragte, wie es uns gehen würde. Annicks Vater war außer sich.“ Auf die Frage, warum sie diese Nachricht erst drei Wochen nach der Geburt erhalten haben, habe der Arzt, ohne mit der Wimper zu zucken, geantwortet: „Wenn Sie es nun wirklich mit nach Hause nehmen, brauchen Sie sich überhaupt keine Sorgen zu machen. Egal ob Schule, Ausbildung oder Freizeit – für solche Kinder ist ausgesorgt.“

Mutter und Vater hätten nicht sofort verstanden, auf was der Mediziner hinauswollte, sodass letzterer weiter ausgeholt habe „Sie geben es morgens ab, gehen es abends wieder abholen und den ganzen Tag können Sie tun, was Sie wollen. Es gibt Förderschulen und geschützte Werkstätten. Das Kind wird sein Geld bekommen, Sie werden Ihr Geld bekommen – was möchten Sie denn noch?“ Und damit habe es noch lange nicht gereicht, der Arzt fuhr fort: „Machen Sie sich keine Sorgen, Sie müssen es ja nicht behalten. Ich kann sofort anrufen und jemand kommt es abholen, wenn Sie ihre Tochter abgeben möchten.“

Eine Aussage, die schockiert, jedoch keineswegs ein Einzelfall ist, wie im Gespräch mit Romains Mutter deutlich wird. „Die Art und Weise, wie uns die Erkrankung unseres Sohnes mitgeteilt wurde, war nicht extrem negativ, aber uns wurde gesagt, dass wir das Kind ja weggeben könnten.“

Beide Frauen haben sich ihr ganzes Leben für ihre Kinder eingesetzt, sei es in Vereinen, bei den vielen Diskussionen um die Aufnahme in Kindergärten und Schulen – eine Erzieherin wollte Annick nicht aufnehmen, die andere habe alles getan, um die Aufnahme zu ermöglichen – oder bei Gesprächen mit Ärzt*innen, damit Annick und Romain umfassend durchgecheckt werden. „Es ist nicht einfach, Ärzte zu finden, die einfühlsam sind und die Kinder nicht von Anfang an aufgeben. Unsere Kinder haben es verdient, eine Zukunft zu haben“, betont Romains Mutter.  „Mit drei Jahren war er wie ein Kind von 18 Monaten. Damals haben wir uns Sorgen gemacht, wie es wohl sein wird, wenn er im Teenageralter ist. Wir hatten Angst vor der Zukunft.“

Auch privat seien beide Familien auf viel Unverständnis gestoßen, befreundete Mütter, die ihre Kinder nicht mehr mit ihnen spielen lassen wollten und Freund*innen, die sich abwandten. „Ich konnte solche Reaktionen nie nachvollziehen. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass sie negative Konsequenzen erlebt hätten, wenn sie mit Romain gespielt hätten“, meint seine Mutter.

„Als hätte Annick eine ansteckbare Krankheit“, bestätigt auch Josiane. Einer Freundin hatte ich von der Trisomie erzählt, als sie mit ihren beiden Kindern zu Besuch war“, erzählt Josiane. Ihre Reaktion schockiert sie bis heute. „Sie begann zu schreien, hat ihr Baby auf den Arm genommen und zu ihrem anderen Kind gesagt: ‚Du darfst dieses Kind nicht mehr anfassen!‘ Diese Freundschaft war damit zu Ende. Ich habe sie vor die Tür gesetzt.“ Dem gegenüber hebt sie die vielen tollten Freundschaften hervor, die in den letzten Jahren entstanden sind. „Wir hatten in einer Spielgruppe einen Jungen mit Trisomie kennengelernt. Diese Freundschaft besteht bis heute.“ Annick grinst über beide Ohren. „Er war mein erster fester Freund!“

„Auf keinen Fall sollen falsche Hoffnungen geschürt werden, aber den Eltern muss etwas gegeben werden, an dem sie sich festhalten können.“

Dr. Fernand Pauly, Kinderarzt

Annick und Romain sind mittlerweile erwachsen und haben eine gewisse Selbstständigkeit. Neben dem Adapto-Dienst können beide auf den öffentlichen Transport zurückgreifen, um von A nach B – zum Großteil zur Arbeit – zu gelangen. „Annick arbeitet, sie spielt Basketball“ – Mutter und Tochter zeigen sichtlich stolz ein Foto mit Premierminister Xavier Bettel und dessen Ehepartner Gauthier Destenay auf einem Sportturnier –, „sie ist in einer Trommelgruppe aktiv und lebt ihre kreative Ader beim Malen aus.“ Annick würde vieles ohne ihre Mutter hinbekommen. „Sie geht auch ohne mich in den Urlaub“, erzählt Josiane und lacht. Sie habe sich stets für ihre Tochter starkgemacht, wie sie selbst sagt. „Ich bin nicht mehr arbeiten gegangen und habe mein ganzes Leben nach ihr gerichtet. Es ist anstrengend, wir mussten viel kämpfen und werden dies weiterhin tun müssen, aber es ist dennoch ein lebenswertes Leben.“

Romain liebt es zu tanzen, vor allem Zumba. Er habe sogar mit der luxemburgischen Tänzerin und Choreografin Sylvia Camarda zusammengearbeitet, wie er schmunzelnd berichtet. „Ich liebe es auf der Bühne zu stehen.“ Wie Annick arbeitet auch er in einem Altersheim und sei besonders während Corona dankbar gewesen, dass er seine Arbeit fortsetzen konnte. „Seine Freizeitaktivitäten waren stärker eingeschränkt, das war schwieriger zu erklären, weshalb und wie lange es noch dauern wird“, ergänzt seine Mutter.

Es sei wichtig, sich Zeit zu nehmen, führt sie weiter aus. „Wenn ich anderen Eltern, die in der gleichen Situation sind wie wir, etwas mit auf den Weg geben kann, dann ist es immer positiv zu bleiben – auch wenn es schwer ist. Auf keinen Fall von Anfang an sagen, dass es nicht möglich ist, sondern sich immer wieder anpassen.“ Diese Anpassungsfähigkeit und eine große Flexibilität hätten stets oberste Priorität. Sie sei sich bewusst, dass dies nicht für jede*n so einfach umzusetzen ist. „Dennoch sollten die positiven Dinge hervorgehoben werden. Oft hat man eine Vorstellung im Kopf, die ganz und gar nicht der Realität entspricht.“