„Wir müssen überleben“

Von Jang KapgenLex Kleren Für Originaltext auf Englisch umschalten

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Während der Krieg in der Ukraine weitergeht, laufen marginalisierte Menschen Gefahr, am stärksten von dessen Folgen betroffen zu sein. Das Lëtzebuerger Journal hat mit queeren Menschen gesprochen, die entweder geflohen oder in Kyjiw geblieben sind, um ihre Erfahrungen mit unglaublicher Widerstandsfähigkeit und ständiger Todesangst zu teilen.

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Der russische Angriff begann am 24. Februar und hat über zwei Millionen Ukrainer*innen zur Flucht in die Nachbarländer gezwungen, wobei die Zahl der Todesopfer sowohl auf russischer als auch auf ukrainischer Seite steigt. In der ukrainischen Hauptstadt , in der früher rund drei Millionen Menschen lebten, kommt es immer wieder zu Straßenkämpfen und Bombenabwürfen. Eine ehemals blühende Stadt hat sich in ein Schlachtfeld der Geopolitik und des Machthungers verwandelt. Während einige ihrer Bürger*innen in der Stadt geblieben sind, um ihre Hauptstadt zu verteidigen oder humanitäre Hilfe zu organisieren, sind andere in die Sicherheit der Westukraine oder ihrer Nachbarländer geflohen - darunter auch Yevhen Trachuk, eine in Kyjiw lebende queere kunstschaffende Person als Projektmanagerin*in für Kyiv Pride, eine LGBT+-Organisation in der Hauptstadt. Der Krieg hat Yevhens Leben in einen Alptraum von nicht enden wollender Erschöpfung verwandelt.

Die russische Bedrohung

„Kyjiw fühlte sich für mich wie ein sicherer Ort an“, schildert Yevhen die Situation vor der russischen Invasion in unserem Interview am 4. März, „ich konnte mich kleiden, wie ich wollte, und hatte keine Angst, angegriffen zu werden“. Yevhen erinnert sich an queere Partys, die zum Kyiver Nachtleben gehörten, und an den jährlichen Pride-Marsch, der ein Beispiel für die immer besser werdende Situation der queeren Gemeinschaft in Kyjiw war. Dennoch wurde die Gleichberechtigung nicht erreicht – die Polizei musste die Pride-Märsche immer noch schützen, da befürchtet wurde, dass rechtesextreme Gruppen die Teilnehmer*innen anzugreifen, wie Yevhen erzählt. Grundlegende rechtliche Gleichstellung, wie die gleichgeschlechtliche Ehe und Antidiskriminierungsgesetze, war noch nicht gegeben. Als Putin jedoch seinen Angriff startete, konnte die Sicherheit, die Yevhen zuvor empfand, nicht mehr gewährleistet werden. Yevhen hatte „das Gefühl, dass die Situation vor Ort gefährlicher geworden ist, weil plötzlich viele Menschen mit Waffen unterwegs sind. Im Falle wo sie homophob sind und dich nicht mögen, könnten sie dich verletzen.“

© privat

Yevhen

Dennoch will Yevhen nicht von der eigentlichen Gefahr ablenken, um die es geht. „Wir [queere Menschen] hatten einige Kämpfe in der Ukraine und haben sie immer noch […], aber die ganze Nation hat im Moment das gleiche Problem; wir haben Angst, dass Russland die Kontrolle über die Ukraine übernimmt.“ Als queere Person wird die russische Bedrohung noch beängstigender, da die russische Regierung eine Reihe von explizit queer- und transphobischen Gesetzen erlassen hat. Yevhen weiß sehr genau, wie Russland mit queeren Menschen umgeht – von Putins sogenanntem Gaypropaganda-Gesetz aus dem Jahr 2013, das jegliche Erwähnung von LGBT+-Themen in der Öffentlichkeit verbietet, bis hin zu den schrecklichen Säuberungen in der russischen Republik Tschetschenien, wo queere Männer von der dortigen russischen Regierung und Bevölkerung inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden. Yevhen ist sich bewusst, dass ein Fall von russischer Besatzung zu ähnlichen Verletzungen der Rechte von LGBT+ Menschen in der Ukraine führen könnte. „Genau das ist im Donbass [einer ukrainischen Region an der russischen Grenze] passiert, die derzeit von Russland besetzt ist. Sie haben die gleichen Gesetze in der Region durchgesetzt. Ich weiß von Kunsträumen, die in Gefängnisse umgewandelt wurden, in denen sie pro-ukrainische und auch homosexuelle Menschen inhaftieren.“ Yevhen ist in einer Stadt im Donbass aufgewachsen, wo sich Yevhens Eltern und viele schwulen Freunde noch immer aufhalten. Daher ist die Angst, schlechte Nachrichten zu erhalten, allgegenwärtig.

Hintergrundinformationen

  • Anfang 2017 begannen Nachrichtenagenturen, über die Säuberungsaktionen in der russischen Republik Tschetschenien zu berichten. Bei diesen Säuberungen wurden Männer, die als schwul oder bisexuell galten, inhaftiert und gefoltert, um Informationen über andere schwule Menschen in der Region zu erhalten. Es wurden Fälle bekannt, in denen queere Dating-Apps genutzt wurden, um schwule oder bisexuelle Männer aufzuspüren. Während Menschenrechtsorganisationen ein Ende der Gewalt fordern, sind ähnliche Aktivitäten immer noch im Gange, da immer wieder neue Berichte auftauchen.

  • Das 2013 von Putin unterzeichnete Gesetz verbietet jegliche Erwähnung von LGBT+-Themen in der Öffentlichkeit, einschließlich Fernsehen, Printmedien, Radio und Internet. Die Begründung für das Verbot lautet, Minderjährige davor „schützen“ zu wollen, nicht-traditionellem Sexualverhalten ausgesetzt zu werden. Da das Gesetz die Redefreiheit aktiv einschränkt, sind queere Wohltätigkeitsorganisationen von dem Verbot stark betroffen, da sie ihre Ressourcen (wie Beratungsstellen für psychische Gesundheit) nicht offen anbieten und sich nicht für die Rechte von LGBT+ einsetzen können. Die Queer-Community hat somit keine legalen Möglichkeiten, Informationen über LGBT+-Rechte zu erhalten. Menschenrechtsorganisationen wie auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte haben das Gesetz als diskriminierend bezeichnet.

  • Die Ukraine ist noch auf dem Weg, Gesetze zu schaffen, die die Sicherheit und Würde aller queeren Menschen gewährleisten – aber sie ist auf einem guten Weg, wie alle von uns befragten LGBT+-Aktivist*innen behaupten. Im ILGA-Europa-Ranking 2021, das jedes Jahr die Queer-Freundlichkeit der Gesetzgebung jedes europäischen Landes bewertet, erhielt die Ukraine eine Punktzahl von 19 Prozent (39. von 49 europäischen Ländern). Im Vergleich dazu erhielt Luxemburg eine Punktzahl von 72 Prozent (3. Platz) und Russland von zehn Prozent (46.Platz). Unter anderem fordert die ukrainische Queer-Community nach wie vor gesetzliche Rahmenbedingungen, die sich ausdrücklich mit LGBT+-Hassverbrechen befassen, die Selbstbestimmung von Trans-Personen respektieren und die Gleichstellung von Ehen und queeren Familien anerkennen.

    Wir empfehlen, einen Blick auf die interaktive Karte von Rainbow Europe zu werfen, wenn Sie die queere Gesetzgebung in Europa und speziell in der Ukraine vergleichen und nachlesen möchten.

Als Projektleiter bei Kyiv Pride weiß Yevhen auch, dass die russischen Behörden über die Organisation und wahrscheinlich über jedes einzelne ihrer Teammitglieder Bescheid wissen. Yevhen erzählt, wie russische Nachrichtensender Fotomaterial und Videos, die von Kyiv Pride veröffentlicht wurden, für ihre eigenen Ziele weiterverwendet haben. „Das Projekt, für das ich verantwortlich war, zielte darauf ab, die LGBT+-Gemeinschaft im Donbass [durch Workshops, Gemeinschaftstreffen und andere Veranstaltungen] zu mobilisieren. Sie nutzten unser Projekt, um zu zeigen, wie schlecht die Ukraine ist und dass wir Gay-Leute im Donbass dazu zwingen, mitzumachen.“ Yevhen ist immer noch fassungslos. „Am Anfang dachten wir, es sei lustig. Wir haben uns darüber lustig gemacht, dass sie einen Krieg anfangen könnten. Aber jetzt ist es nicht mehr lustig.“ Yevhen sollte eigentlich Anfang März in den Donbass reisen, aber das Projekt wurde gestoppt, als die russische Invasion begann. „Es kursieren auch Gerüchte über eine russische Tötungsliste auf der angeblich auch LGBT+-Befürworter und Aktivisten stehen“. Da Yevhen weiß, dass russische Medien bereits Video- und Fotomaterial von der Kyiv Pride übernommen haben, lösen Gerüchte wie diese bei den Teammitgliedern Besorgnis und Angst aus.

 Der Tag des Krieges

„Ich und mein Freund saßen in der Küche, unterhielten uns und dachten, dass der Krieg morgen beginnen könnte“, erinnert sich Yevhen am Tag vor dem Krieg, „und ich hatte das Gefühl, dass vielleicht etwas Schlimmes passieren würde. Als ich am nächsten Tag aufwachte, klopfte jemand an meine Tür. Ich dachte, vielleicht sind es meine Nachbarn und habe nicht weiter darauf geachtet. Aber dann klappte ich mein Handy auf und sah eine Million Nachrichten, in denen ich gefragt wurde, ob es mir gut ginge, ob ich noch am Leben sei und all diese Fragen. Als ich dann die Tür öffnete, sah ich tatsächlich meine Freunde dort stehen, die mir sagten, dass der Krieg begonnen hat und dass wir zur U-Bahn gehen müssen. Ich konnte nicht glauben, dass es wirklich passiert ist – dass Kyjiw in diesem Moment bombardiert wurde. Ich nahm schnell meine wichtigsten Sachen und wir machten uns auf den Weg zu meinem Freund.“ Yevhen erzählt, wie der Krieg begann. In den letzten Nächten in Kyjiw mussten sie alle zusammen in einem Zimmer schlafen, sie mussten die Fenster schließen und sich ständig vor ihnen verstecken und konnten die Wohnung nicht verlassen. „Wir blieben drei Nächte dort und mussten sogar eine Nacht in der U-Bahn schlafen, wegen der Bomben. Dann kauften wir Zugtickets, um zu fliehen, denn die Situation wurde immer stressiger. Wir wussten nicht, was als nächstes passieren würde.“

„Es kursieren auch Gerüchte über eine russische Tötungsliste auf der angeblich auch LGBT+-Befürworter und Aktivisten stehen.“

Yevhen, Projektleiter der Kyiv Pride

„Jetzt ist unser Leben wieder ziemlich normal“, denn Yevhen lebt in einer westlichen Region der Ukraine, die der Krieg noch nicht erreicht hat. „Aber es ist nicht dasselbe, weil man weiß, dass so viele Dinge um einen herum passieren. Es ist wirklich schwer, nach draußen zu gehen, auch wenn hier Cafés und Restaurants geöffnet sind. Ich habe schlicht keine Energie, um rauszugehen.“ Für Yevhen dreht sich alles um den Krieg – Nachrichten, Reden des Präsidenten und Erfahrungen von Freunden und Familie. Jeden Morgen „wachst du auf und fragst deine Freunde, ob es ihnen gut geht und ob sie Hilfe brauchen. Für mich fühlt sich das wie ein einziger großer Tag an. Auch wenn ich schlafe und aufwache. Ich warte nur darauf, dass das alles ein Ende nimmt.“

Maidan-Revolution

  • Der von Russland unterstützte Präsident Janukowytsch wird nach Massenprotesten wegen Korruption und Janukowytschs Plänen, sich Russland anzunähern, aus dem Amt vertrieben. Während der „Maidan“-Revolution werden mehr als 100 Menschen bei Demonstrationen auf dem Hauptplatz von Kyjiw getötet. Russland leistet Unterstützung im Bereich der Sicherheit. Die neue Regierung wird von pro-russischen Experten und Kampagnen heftig angegriffen. Der pro-demokratische Kandidat und ukrainische Oligarch Poroschenko wird später Präsident.

Da Yevhen jetzt im Westen der Ukraine lebt, ist die Flucht über die Grenze eine Option, „aber ich habe immer noch dieses Gefühl … Ich möchte in der Ukraine bleiben, weil es mein Land ist. Ich habe gesehen, wie es sich verändert hat. Ich habe diese Präsidentschaft und die Veränderungen nach der Maidan-Revolution gesehen. Ich habe geglaubt, dass alles gut werden würde.“ Es sei ein widersprüchliches Gefühl zwischen dem Wunsch, zu helfen – und sogar in die Kriegsgebiete von Kyjiw zurückzukehren – und dem Wunsch, in Sicherheit zu sein. Die Solidarität in der Ukraine zu sehen gebe aber Hoffnung.

Während der Krieg zerrüttet, zeigen die Gemeinschaften Solidarität

Lenny Emson ist der geschäftsführende Direktor der Kyiv Pride. Er befindet sich derzeit an einem Ort, den er aus Sicherheitsgründen nicht preisgeben möchte. Er meldet sich beim Zoom Call am 3. März mit tiefen Augenringen und einer erschöpften Stimme. Der Schmerz der letzten Tage ist in jedem seiner Worte und jedem seiner Atemzüge zu spüren. Das ständige Geräusch von Benachrichtigungen über eingehende Nachrichten unterbricht unser Gespräch, denn die Mitglieder der Gemeinschaft informieren sich gegenseitig über die Situation und bitten um Hilfe. „Für die LGBT+-Community war die Ukraine auf einem sehr guten Weg. Wir standen an der Schwelle zu etwas wirklich Großem. Wir waren kurz davor, unsere Abgeordneten über ein Gesetz abstimmen zu lassen, das LGBT+-Gewalt als Hassverbrechen anerkennt, und wir erwarteten wirklich, dass sie dieses Jahr dafür stimmen würden, so dass LGBT+-Hassverbrechen in der Ukraine bestraft werden würden. Später in diesem Jahr erwarteten wir auch, dass unsere Regierung einen Blick auf das Gesetz über die gleichgeschlechtliche Ehe und Partnerschaft werfen würde. Das war der Stand der Dinge. Doch dann kam der Krieg, den wir nicht erwartet hatten. Er machte alles zunichte, wofür wir gekämpft hatten, und wir wissen nicht, was uns in Zukunft erwartet.“

Die Queer-Community hat schnell auf die Situation reagiert: In der gesamten Ukraine wurden LGBT+-Community-Zentren in Notunterkünfte umgewandelt, die von lokalen Aktivist*innen organisiert wurden, um den Bedürfnissen der Community gerecht zu werden. Diese Unterkünfte bieten Essen, einen Platz zum Schlafen und Gemeinschaft in Zeiten des Krieges. Die Kyiv Pride verteilt alle Spenden an diese lokalen Unterkünfte und an bedürftige queere Menschen – während die Preise in die Höhe geschossen sind. Unterbrochene Versorgungsleitungen, unzugängliche Lagerhäuser und blockierte Straßen haben die „Lebensmittel-, Transport- und Gaspreise“ in die Höhe getrieben, was die Lage der Menschen vor Ort noch schwieriger macht. Vor allem Kyjiw ist von der Inflation betroffen, da der Krieg in der Stadt weiter wütet. „Wir sind dankbar für jede Spende und jede Unterstützung. Folgen Sie uns auf den sozialen Medien, teilen Sie unsere Updates, verbreiten Sie die Nachricht über die Situation von queeren Menschen in der Ukraine“, fordert der Geschäftsführer der Kyiv Pride.

© privat

Der Informationsaustausch ist zu einem der wichtigsten Instrumente für die Ukrainer*innen geworden – insbesondere für die lokale Gemeinschaft. „Wir haben geschlossene Chats für LGBT+-Menschen eingerichtet, die Hilfe, Asyl oder einfach nur eine Bleibe suchen. Über 100 Personen haben sich bereits angemeldet, und fast täglich kommen neue hinzu, denn die Nachfrage wächst. Die Leute stellen Fragen wie: Wohin soll ich gehen, wie kann ich dort hingelangen, hat jemand ein Transportmittel, wer kann mit einer alten und beeinträchtigten Mutter helfen, wer kann Essen bringen, wer kann helfen, Medikamente zu finden. Die Menschen brauchen diesen Online-Kommunikationsraum wirklich. Und deshalb haben wir ihn für sie geschaffen, damit sie alles an einem Ort finden können.“ Darüber hinaus hat die Kyiv Pride eine Datenbank mit Gastgeber*innen erstellt, die ihre Wohnungen für Flüchtlinge öffnen. „Wir verbreiten diese Datenbank jetzt in der Gemeinschaft, damit die Menschen Unterkünfte in Europa finden können“.

Lenny betont, dass „wir diese Quellen und Chats nicht veröffentlichen, weil die Homophoben im Krieg nicht schlafen. In einem [Online-Chat] der radikalen Gruppen haben wir gerade eine Ankündigung entdeckt, die ihre Mitglieder dazu auffordert, sich bei queeren Ressourcen in Europa [wie LGBT+-Webseiten oder Facebook-Gruppen] zu registrieren und Ankündigungen wie „Wir sind eine LGBT+-Gruppe von Ukrainern und brauchen jetzt Hilfe“ mit einer Kontonummer postet. Auf diese Weise dringen Homophobe in LGBT+-Online-Räume ein und versuchen, Geld aus der Situation zu schlagen.“ Er fordert die Menschen auf, nicht für Organisationen zu spenden, die Geld sammeln, um es zu verteilen, sondern nur für Wohltätigkeitsorganisationen, die vor Ort arbeiten. „Bitte unterstützen Sie keine Gruppen, die Sie nicht kennen, oder Gruppen, die neu gegründet wurden.“

Queer-Widerstand gegen die russischen Streitkräfte

Auf die Frage, ob Russlands Queerphobie bedrohlich ist, zögert Lenny nicht mit seiner Antwort. „Wir haben keine Angst vor Russlands Politik, denn wir glauben nicht, dass wir unter Russlands Gesetzen leben werden – niemals. Wir glauben nicht, dass Russland die Ukraine besetzen wird, das ist nicht das Ergebnis, das wir erwarten, und wir werden alles tun, damit das nicht passiert.“ Wie Yevhen bereits erwähnte, bestätigt auch Lenny: LGBT+-Menschen sind ebenso wie alle anderen ukrainischen Bürger*innen bereit, zu den Waffen zu greifen und zu kämpfen. Die Ukraine werde sich gegen die russische Invasion wehren, wie Lenny immer wieder betont: „Queere Menschen schließen sich lokalen territorialen Verteidigungseinheiten an und treten dem Militär bei. Wir sitzen alle im selben Boot und helfen uns gegenseitig, diesen Krieg zu gewinnen […] Das sind sehr gefährliche Jobs, aber die Leute machen sie, weil sie fest an unseren Sieg glauben.“

„Für die LGBT+-Community war die Ukraine auf einem sehr guten Weg. […] Der Krieg machte alles zunichte, wofür wir gekämpft hatten, und wir wissen nicht, was uns in Zukunft erwartet.“

Lenny Emson, geschäftsführender Direktor von Kyiv Pride

„Wir brauchen die Unterstützung der ganzen Welt – aus der ganzen Welt, aus jedem Land. Das ist es, was wir jetzt brauchen, um zu gewinnen“, erklärt der Geschäftsführer der Kyiv Pride. „Es ist so wichtig zu wissen, dass man nicht allein ist und dass jemand hinter einem steht.“ Konkret sagt Lenny: „Wir haben eine allgemeine Forderung: Wir müssen überleben. Ich meine, physisch überleben. Um queer und glücklich zu sein, müssen wir am Leben sein. Um am Leben zu sein, müssen wir den Krieg beenden“, was für Lenny bedeutet, dass die NATO den ukrainischen Luftraum für russische Flugzeuge sperren muss. „Also, bitte schließt den Himmel. Bitte, geht auf Kundgebungen, schreibt Briefe an eure Gouverneure, protestiert, unterschreibt Petitionen – die NATO muss den Himmel über der Ukraine schließen, damit die Russen uns nicht bombardieren können. Das ist im Moment wirklich wichtig, damit wir am Leben bleiben. Leider sind die Politiker bei diesen Entscheidungen nicht so schnell, aber deshalb ist die Zivilgesellschaft hier, um Druck auf die Entscheidungsträger auszuüben, die noch zögern.“

Trans-Rechte sind Menschenrechte

„Ich schreibe diese Worte während der Bombardierung von Kyjiw, es ist sehr beängstigend. Es ist jetzt 10 Uhr 34 und wir haben den 4. März – wir werden seit dem Morgen bombardiert.“ Dies sind die Worte von Anastasiia Yeva Domani, als sie auf unser E-Mail-Interview antwortet. „Ich verlasse Kyjiw und mein Büro im 17. Stock nicht, weil ich verpflichtet bin, diese Hilfe [für die Trans-Gemeinschaft] sofort zu koordinieren. Und das, obwohl eine Rakete in das Nachbarhaus eingeschlagen ist, die dann mein Haus unter sich begrub.“

Anastasiia Yeva Domani ist ein*e Transaktivist*in, die für die Wohltätigkeitsorganisation Cohort NGO arbeitet, die sich für die Rechte von Transsexuellen in der Ukraine einsetzt. Um die Gemeinschaft zu unterstützen, zahlte Cohort NGO alle Gehälter ihrer Mitarbeiter*innen für Februar und März im Voraus aus und gab ihre Budgets aus, indem sie das Geld direkt an ihre Transgender-Mitglieder überwies. „Der Durchschnitt liegt bei 35 Dollar pro Person. Nach der ersten Zahlungsrunde leisten wir eine zweite Zahlung an dieselben Trans-Personen, weil wir wissen, dass [die Summe] nicht ausreicht.“ Da die Preise im Land steigen und Transgender-Personen aufgrund mangelnder familiärer Unterstützung und Diskriminierung am Arbeitsplatz oft Mühe haben, Ersparnisse anzusammeln, können diese kleinen Zahlungen lebensrettend sein – und die Gewährleistung der Sicherheit ist die oberste Priorität der Organisation. „Wir versuchen, alle Neuigkeiten und Möglichkeiten für transsexuelle Menschen über unsere Social-Media-Kanäle zu verbreiten. Wie man ins Ausland geht, wo man psychologische Hilfe bekommt, wer bei der Evakuierung hilft, wo man Hormone kaufen kann, Zugfahrpläne, Luftangriffswarnungen und so weiter“, erklärt Anastasiia.

Transgender-Rechte

  • In einem Interview mit Women UN 2020 erklärte Anastasiia Yeva Domani, dass „die rechtlichen Aspekte der Geschlechtsumwandlung eine noch größere Herausforderung darstellen als der medizinische Prozess, vor allem wenn man versucht, sein Geschlecht in offiziellen Dokumenten wie dem Personalausweis zu ändern.“ Während transsexuelle Menschen in der Ukraine mit Stereotypen, Diskriminierung und auch Gewalt konfrontiert sind, ist laut Anastasiia die rechtliche Anerkennung ihres Geschlechts für viele eine weitere ermüdende Belastung, da der bürokratische Prozess komplex und anstrengend ist. Folglich haben viele Transfrauen diesen bürokratischen Prozess nicht begonnen oder abgeschlossen und tragen in ihren Ausweispapieren immer noch ein männliches Geschlecht – was zu derzeitigen Komplikationen beim Reisen und beim Grenzübertritt führt.

    Wenn Sie mehr über Anastasiias Erfahrungen mit dem Rechtssystem in der Ukraine vor dem Krieg und über ihren Weg als Trans-Aktivistin erfahren möchten, lesen Sie ihr Porträt über Women UN.

Falsch ausgestellte Ausweise machen das Leben von Transgender-Personen noch schwieriger. Da das bürokratische Verfahren für Transgender-Personen zur Änderung ihres Ausweises vom Geschlecht ihrer Geburtsurkunde in ihr tatsächliches Geschlecht ermüdend und kompliziert war, haben viele Transgender-Frauen immer noch einen Ausweis, der sie fälschlicherweise als männlich ausweist. Laut dem aktuellen Präsidialerlass ist es jedoch verboten, mit einem männlichen Geschlechtseintrag im Reisepass ins Ausland zu reisen, da die männlich identifizierte Bevölkerung zwischen 18 und 60 Jahren zum Militär eingezogen werden muss. Viele Transfrauen befürchten nun, dass sie, wenn sie reisen oder versuchen, die Grenze zu überqueren, zum Militärdienst verpflichtet werden. Die NRO Cohort und Anastasiia arbeiten jedoch Tag und Nacht daran, diese Probleme zu lösen – und versuchen, alle eingehenden Fragen zu beantworten. Kyiv Pride wie auch Cohort NGO betonen, dass obwohl sich die Aufmerksamkeit der Medien auf die Angst in der ukrainischen Trans-Gemeinschaft konzentriert hat, sich keine Trans-Person allein fühlen sollte – es gibt viele LGBT+-Organisationen, die Unterstützung, Ressourcen und Gemeinschaft bieten.

„Viele waren gezwungen, die Hormonersatztherapie abzubrechen, auch ich, weil sie keine Zeit hatten, sich mit Medikamenten einzudecken. […] Die Situation kann als humanitäre Katastrophe, Chaos und Lebensgefahr beschrieben werden. Viele Kommunikationsmittel sind zerstört – Transmenschen in Charkiw, Tschernihiw, Sumy, Cherson und Mariupol haben keinen Strom, kein Wasser, keine Heizung und kein Internet.“ Eine letzte Hoffnung seien die humanitären Korridore „für die Versorgung mit Medikamenten, Lebensmitteln und den Abtransport von Verwundeten, Kindern und Menschen, die ihre Häuser verloren haben“. Diese Korridore wurden bei den ukrainisch-russischen Verhandlungen am 4. März beschlossen. Trotz all dieser Probleme ist Anastasiia fest entschlossen, an ihrem Computer zu bleiben, um Informationen über die Situation von trans- und cisgeschlechtlichen Menschen in der Ukraine zu verbreiten und allen Trans-Personen zu helfen, die sich melden.

Yevhen, Lenny und Anastasiia – ihr Zeugnis spricht von Hoffnung, Angst und unglaublicher Resilienz. LGBT+-Menschen sowie die gesamte Ukraine leiden unter der russischen Invasion, aber sie leisten Widerstand und sind solidarisch. Wohltätigkeitsorganisationen wie die Kyiv Pride und Cohort NGO tun ihr Bestes, um zu helfen und das Überleben ihrer Gemeinschaften zu unterstützen, aber über die Zukunft der Ukraine entscheidet letzlich die Politik. Wie Lenny sagte: „Wir haben eine allgemeine Forderung: Wir müssen überleben“.