Nur Sitzen war gestern – Das Klassenzimmer wird aktiv
Von Laura Tomassini, Lex Kleren, Gilles Kayser
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Die einen zeichnen mit Kreide auf den Boden, andere jonglieren im Flur mit einem Ballon: Philippe Arendts Cycle 4.2 ist eine Bewegungsklasse, in der Lernen etwas anders geht. Von den positiven Effekten auf die Schüler*innen ist der Lehrer überzeugt. Doch obwohl Bewegungsförderung auf der politischen Agenda steht, fehlt es an Zahlen zur Verbreitung des pädagogischen Ansatzes.
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Weniger sitzen, mehr Bewegung, so der Standard-Tipp für ein gesundes Leben. Das Konzept "Bewegte Schule" soll dies ebenfalls im Bildungskontext ermöglichen, denn während Schüler*innen früher für Zappeln bestraft wurden, ist dies nun in gewisser Weise im Klassenzimmer erwünscht. Einer, der dies mit dem nötigen Mix aus Flexibilität und Struktur umsetzt, ist Philippe Arendt, der seinen Unterricht in der Grundschule im Rollingergrund mithilfe von alternativen Sitzmöglichkeiten und Bewegungspausen gestaltet.
An der Uni lernte der Lehrer das Konzept der Bewegten Schule kennen. Als Basketballspieler war er davon sofort begeistert. "Ich habe in meiner Bachelorarbeit über das Konzept geschrieben und während meiner Probezeit einmal die Woche eine Bewegungspause oder Ateliers eingebaut, da ich einfach schnell gemerkt habe, wie groß der Mehrwert für die Kinder ist", so Arendt. Eine erhöhte Konzentration, mehr Motivation, ein besseres Langzeitgedächtnis, so lauten nur einige der positiven Auswirkungen, die Bewegung aufs Lernen ausübt. Der Fokus liegt auf der Interdisziplinarität, sprich der Kombination von Standard-Fächern mit Aktivitäten, die den Schüler*innen Spaß bereiten.
Bewegungspausen und dynamisches Sitzen
Auf dem "Menü" von heute: Schubitrix, ein Lernspiel zur Sprachförderung, Drehrad und Kreide zum Üben von Winkeln, eine Jonglierübung gekoppelt mit Verben sowie Spiegelschrift mit Lückentext, das Ganze in kurzen Ateliers mit Wechsel. Während die eine Gruppe also versucht, die Infinitiv-Karte eines Verbs mit der Präteritum-Karte à la Domino zu paaren, dreht eine andere am Rad und zeichnet den angegebenen Winkel auf den Boden oder macht zehn Hampelmänner. Wieder andere üben Verben, während sie mit einem Ballon jonglieren oder lesen französische Sätze in Spiegelschrift vom Fenster ab und setzen das entsprechende Verb im "futur simple" ein.
"Man hat in Studien zum Beispiel herausgefunden, dass die Hand-Augen-Koordination einen positiven Einfluss aufs Gedächtnis hat und Kinder sich dadurch, dass das Gehirn eine Schulübung mit einem angenehmen Bewegungserlebnis verbindet, besser an das Gelernte erinnern", erklärt Arendt das Konzept. Während diese Art von Ateliers gezielt Lerninhalte durch Bewegung vermittelt, kann Bewegte Schule auch einfach in normale Kurse integriert werden, zum Beispiel anhand dynamischer Sitzmöglichkeiten. Im C4.2 im Rollingergrund steht hinten im Saal ein Stehtisch mit Fahrrad, manche Stühle sind durch Gymnastikbälle ersetzt und die Schüler*innen können im Sitzen, Stehen oder auf dem Boden liegend lernen.

Philippe Arendt
"Am Anfang ist dies natürlich ungewohnt und manche Geräusche erscheinen vielleicht als störend, aber sobald man sich daran gewöhnt hat, hat das Ganze nur positive Effekte", berichtet der Lehrer. Balance Boards, Fitness-Pedale, sogenannte "Z-Tools" in Z-Form mit Sitz- und Schreibfläche zum Schreiben auf dem Boden: Die Kinder dürfen frei wählen, wie und wo sie im Unterricht sitzen wollen und zeigen sich begeistert. "Ich kann mich viel besser konzentrieren als damals in meiner alten Schule, wo es das nicht gab und die Aufgaben machen auch viel mehr Spaß", meint der zwölfjährige Oliver. Vor allem die aktiven Bewegungspausen sind bei den Grundschulkindern beliebt, denn diese unterbrechen den Unterricht für etwa 15 Minuten durch eine sportliche Aktivität und wirken so gegen Langeweile, Müdigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten.
Für das Interview hat Arendt ein paar davon vorbereitet. Zuerst werden alle Bänke und Stühle beiseitegeschoben, dann stellen sich die Schüler*innen in einen großen Kreis. Bei "Lucky Luke" geht es darum, schnell zu reagieren, denn zieht eine*r per Handzeichen seine*ihre Pistole, müssen die Danebenstehenden sich ducken – wer dies nicht schnell genug tut, hat verloren und "muss" eine "Strafübung" machen, etwa Pushups. Es wird viel gelacht und angefeuert, doch alle sind konzentriert und auch jene, die von Lucky Lukes Päng-Päng getroffen wurden, schauen gespannt zu, wie ihre Kommiliton*innen beim Aufruf ihres Namens die Pistolen ziehen.
Nach der Action setzen sich dann alle wieder zufrieden an ihren Platz und lernen weiter, fast so, als wäre nichts gewesen. "Wenn man zu lange einfach nur da sitzt, dann langweilt man sich schnell. Die Bewegungspausen helfen dabei, sich kurz auszutoben und motivieren für den Rest des Tages", sagt die zwölfjährige Imane. Auch Vicky und Oliver stimmen ihr zu, man freue sich mehr denn je auf den Tag und könne durch die Bewegungspausen auch mal schlechte Laune oder Müdigkeit überbrücken. "Dadurch, dass die Kinder nicht nur steif dasitzen müssen, schaukeln sie weniger auf ihren Stühlen und sind viel lockerer, das merkt man sofort", betont Arendt.
"Schule ist nicht mehr wie früher, als man stundenlang in der Bank saß und brav von der Tafel abschrieb."
Sarah Schinker, Sportkoordinatorin bei Caritas Jeunes et Familles
Der Switch zwischen Pause und Unterricht funktioniere super, denn es gibt auch Übungen, um die Schüler*innen wieder zu beruhigen, erklärt der Lehrer. Auch Sarah Schinker, Sportkoordinatorin bei Caritas Jeunes et Familles, schwört auf das Konzept des bewegten Lernens und der Bewegungspausen, denn: "Schule ist nicht mehr wie früher, als man stundenlang in der Bank saß und brav von der Tafel abschrieb." Es sei mittlerweile wissenschaftlich nachgewiesen, dass die Konzentrationsspanne eines Kindes etwa beim Zweifachen seines Alters liege, sprich ein Kind von sieben Jahren kann sich ungefähr 15 Minuten wirklich auf etwas konzentrieren, bevor seine Gedanken abschweifen, so die Bewegungsexpertin. "Ein Sechsjähriger kann keine Stunde lang Verben lernen oder einer Geschichte lauschen, irgendwann driftet er ab, das ist ganz normal."
Kein Monitoring auf nationaler Ebene
Mit ihrem Team berät und begleitet die Sportkoordinatorin Angestellte des Sozialwesens, um ebenfalls in non-formalen Settings wie der Crèche oder Maison Relais mehr Bewegungsmöglichkeiten zu implementieren. Eine Grundvoraussetzung: Das Personal muss offen für den etwas ungewohnten Ansatz sein. "Im Moment wird beispielsweise vom IFEN (Bildungsinstitut der nationalen Bildung) eine Weiterbildung angeboten, an der Lehrkräfte auf freiwilliger Basis teilnehmen können und das Interesse daran ist da, doch gesamte Schulen dazu zu bewegen, mehr Bewegung in den Alltag zu integrieren, bleibt schwierig", sagt Schinker.
Es mangele an konkretem Monitoring zum Thema Bewegte Schule, denn obschon der Begriff klar in den beiden letzten Koalitionsverträgen genannt wird und ein Wunsch seitens des Bildungsministeriums besteht, das Konzept weiter auszubauen, gibt es zur aktuellen Anwendung keine Zahlen. "Dies, weil es sich beim Konzept Bewegte Schule um eine pädagogische Methode handelt, also ein Toolkit, mit dem das Lehrpersonal im Rahmen seines Unterrichts frei arbeiten kann. Solche Methoden werden nicht quantifiziert", so die Erklärung des Ministeriums. Ressortminister Minister Claude Meisch (DP) hat am vergangenen 24. Februar ein Maßnahmenpaket im Rahmen der Kampagne zur Screen-Life-Balance präsentierte, in dem der Fokus ebenfalls auf Bewegung liegt.
Mehr Bewegung im schulischen und außerschulischen Kontext

Sarah Schinker
In wie vielen Klassen das Konzept also auch wirklich zum Einsatz kommt, lässt sich – wie so oft in Luxemburg – nicht messen, dabei sei der Aufwand für Lehrkräfte und Erzieher*innen eigentlich minim, so Schinker. Man könne nämlich aus zahlreichen Alltagsmaterialien ohne jegliche Zusatzkosten Tools für Bewegungs-Aktivitäten basteln: "Aus Zeitungspapier kann man 'Schneekugeln' zum Werfen formen, mit einem Stock, etwas Schnur und einem Magneten eine Angel zum Fischen von Verben herstellen oder aber im Treppenhaus Rechnen üben, indem man die korrekte Anzahl an Stufen hochspringt." Auch Fliegenklatschen, Pool-Nudeln oder Bierdeckel kommen zum Einsatz, denn der Kreativität sind im und außerhalb des Klassenzimmers keine Grenzen gesetzt.
Ein Klassiker, den viele Lehrkräfte bereits einsetzen, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein: das Lauf-Diktat. Wichtig sei dabei, dass die Aktivitäten nicht willkürlich, sondern geführt stattfinden, mit klarer Struktur und Regeln, so wie sie auch bei herkömmlichem Turnunterricht existieren. "In skandinavischen Ländern wird das Modell Bewegte Schule sehr stark eingesetzt und erzeugt sehr gute Resultate. Man hat zum Beispiel kürzlich herausgefunden, dass beim Schaukeln die Synapsen im Gehirn besser miteinander kommunizieren und man so auch besser lernt, zudem macht es glücklich, also eine Win-Win-Situation", sagt Schinker.



Dabei hänge es vom Tag ab, wie viele und wie lange Bewegungspausen Kinder brauchen: "Wenn sie von 8 bis 16 Uhr quasi nur Hauptfächer hatten, ist ihr Bedarf nach Bewegung natürlich höher, als wenn sie morgens direkt schon zwei Stunden schwimmen waren." Eines will die Bewegungsberaterin aber noch betonen, und zwar, dass bewegtes Lernen keineswegs ein richtiges Sporttraining ersetzt: "Es ist kein Geheimnis, dass Übergewicht immer mehr ein Problem auch schon bei Kindern wird, deshalb ist es wichtig, die Eltern daran zu erinnern, dass Kinder, auch wenn sie sich in der Schule etwas mehr bewegen, trotzdem in ihrer Freizeit Bewegungsmöglichkeiten brauchen und nicht nur vorm Bildschirm sitzen sollen."
Die positiven Effekte spüren aber nicht nur die Kinder selbst, sondern auch Lehrer*innen und Erzieher*innen, wie Philippe Arendt erklärt: "Mir nimmt das Konzept viel Last ab, auch in punkto Inklusion." Er habe etwa einen autistischen Jungen in der Klasse, der sich anfangs mit der Integration und den Bewegungsübungen schwertat, nun aber begeistert teilnimmt und mit den anderen mithalten kann – einfach dadurch, dass gemeinsam "anders" gelernt wird. Wichtig, so der Lehrer, sei die Laune der Kinder zu respektieren: "Wir sind zwar eine Bewegungsklasse, das heißt aber nicht, dass jeder auch mitmachen muss oder ich jemanden zu den Übungen zwinge."
"Wenn man zu lange einfach nur da sitzt, dann langweilt man sich schnell. Die Bewegungspausen helfen dabei, sich kurz auszutoben und motivieren für den Rest des Tages."
Imane (12), Schülerin aus Philippe Arendts Bewegungsklasse
Sein Ziel ist es, das Konzept der Bewegten Schule auch über die Mauern seines Klassenzimmers hinaus zu bewerben, denn er glaubt fest an dessen Vorteile: "Künftig will ich in meiner Klasse Hospitationen (Besuch von Außenstehenden, d. Red.) anbieten, damit auch Lehrer aus anderen Schulen sich das Konzept ansehen können." Die einzig bleibende Challenge: den Schüler*innen nicht die Lust aufs Gymnasium zu nehmen, denn spätestens im Lycée ist Schluss mit Bewegungspausen und alternativem Sitzen.
Die jüngste Ankündigung und eine Pilotstudie von 2014 in fünf Grundschulen der Gemeinden Nommern, Fels, Fischbach, Vichten und Lintgen zeigen, dass ein politischer Wille zur Veränderung besteht. Zu "bewegen" bleibt dennoch viel, dessen sind sich alle Befragten sicher.
