Kollateralopfer der Sucht

Von Sarah RaparoliLex KlerenAnouk Flesch

Beim Thema Alkoholabhängigkeit steht meist der*die Süchtige im Vordergrund, obwohl das Leben mehrerer Menschen beeinflusst werden kann. In diesem Artikel sollen Angehörige, die oft übersehen werden und für die es an spezifischen Anlaufstellen fehlt, eine Stimme bekommen.

Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben fast sieben Prozent der Bevölkerung in Luxemburg eine gestörte Beziehung zu Alkohol, um die 18.000 – oder fast drei Prozent – gelten als alkoholabhängig. Das Statistikinstitut Statec hat letzten Sommer einen Bericht zu den Konsumgewohnheiten der Luxemburger*innen veröffentlicht. Demzufolge haben die Ausgaben für alkoholische Getränke im Vergleich zu anderen Waren am stärksten zugenommen, mit einem durchschnittlichen Anstieg auf 56,9 Prozent beziehungsweise von 414 auf 727 Euro pro Haushalt. Alkoholabhängigkeit ist ein Problem, auch im kleinen Luxemburg. Dies betrifft jedoch nicht nur die Person selbst, sondern auch Familie und Freund*innen.

Sie alle verbindet der Alkohol, obwohl sie nicht selbst in die Abhängigkeit rutschten. Die Sucht einer ihnen nahestehenden Person hat ihr Leben mitbestimmt. So auch bei Tami Sondag. Die heute 31-Jährige blickt im Gespräch mit dem Lëtzebuerger Journal auf ihre Kindheit, Jugend und rezentere Jahresabschnitte zurück. „Diese Erfahrungen prägen. Sie können eine Erklärung sein, warum man so ist, wie man ist. Das sind psychische Wunden, die einen Einfluss auf das Leben haben können.“ Mit 20 Jahren hätte sie sich einen Anhaltspunkt gewünscht, „etwas, worüber ich gestolpert wäre“, damit sie gewusst hätte, was los ist. „Du fühlst dich wie in einer Sackgasse.“ Sie habe einige Jahre gebraucht, um es zu verstehen, es aufzuarbeiten und Abstand zu gewinnen. An diesem Punkt sei Tami mittlerweile angekommen.

Im Konstrukt lernen zu funktionieren

Ihre Erlebnisse würden sich nicht mit der typischen Darstellung in Filmen decken. „Es war ein schleichender Prozess. Ich erinnere mich nicht an einen prägenden Moment, an dem es angefangen hat.“ Es ist ihr Vater, der in die Alkoholabhängigkeit rutschte. Er sei früh morgens arbeiten gegangen, sodass sein Arbeitstag bereits am frühen Nachmittag geendet hat. „Wenn er nach Hause kam, hat er sofort getrunken. Auch auf den leeren Magen, danach hat er sich hingelegt.“ Auf Familienfeiern wurde stets Alkohol konsumiert, eine Selbstverständlichkeit, die nie infrage gestellt wurde. Tami erinnert sich an ein Weihnachtsessen, an dem es eskalierte, ohne bei ihrer Erzählung ins Detail zu gehen. „Wir wurden nie wieder eingeladen. Das wurde von meinen Eltern einfach so akzeptiert, das war halt so.“

Als Schülerin gab sie ihr Bestes, sie wollte ihre Eltern auf keinen Fall enttäuschen. „Leistung war alles. Habe ich nicht geglänzt, wurde mir das unter die Nase gehalten.“ Sie selbst bezeichnet sich als Streberin („Die Schule war für mich mein sicherer Ort im Gegensatz zu dem Pulverfass zu Hause“), die nie etwas Dummes angestellt habe. „Ich habe mich in meine Hausaufgaben geflüchtet.“ Als Kind habe sie sich Mechanismen antrainiert, um in diesem „Konstrukt“, wie Tami es bezeichnet, zu funktionieren. „Du verstellst dich, um nicht aufzufallen. Du weißt nie, was kommt und bist deshalb vorsichtig. Du versuchst durch den Tag zu kommen. Ich habe mit der Zeit gelernt, unsichtbar zu sein.“ Diese Verhaltensweise habe sie bis heute geprägt. „Ich muss stets die Kontrolle behalten und bin null spontan“, gibt sie zu.

Irgendwann wollte sie den Führerschein machen. Natürlich, weil sie wie jede*r Jugendliche*r unabhängig sein möchte, aber Tami trieb ein weiterer Grund an. „Ich wollte nicht mehr, dass mein Vater mich fährt. Er setze sich betrunken hinter das Steuer, einmal wollte er mit mir über die Zugschienen fahren. Das hat mir Angst gemacht.“ Sein Verhalten zeigte sich verstärkt in Extremen: auf der einen Seite aggressiv und jähzornig, auf der anderen Seite rührselig und großzügig. „Ich wusste nie, ob das der ‚richtige‘ Mensch oder nur Fassade ist. Ich wusste jedoch, dass egal, wo wir hingegangen sind, es zu jeder Zeit eskalieren konnte. Ich konnte nie einschätzen, was passiert. Ich war immer auf der Hut.“

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