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Claude Karger übergibt die Chefredaktion des Lëtzebuerger Journal an Melody Hansen. Ein Erfahrungsaustausch.
Claude Karger war 33 Jahre jung, als er Chefredakteur des Lëtzebuerger Journal wurde. Nach 25 Jahren im Beruf, davon 15 auf dem Posten, schlägt er neue Wege ein. Melody Hansen übernimmt mit 28 Jahren als erste Frau die Chefredaktion des traditionsreichen Mediums. Ein Gespräch zwischen zwei Generationen, zwischen Print und online – vor allem aber zwischen zwei Menschen, denen Qualitätsjournalismus aufrichtig am Herzen liegt.
Melody Hansen: Wir haben beide eine A-Sektion besucht. Uns verbindet also eine Affinität für Sprachen. War das für dich einer der Gründe, weshalb du dich für Journalismus interessiert hast?
Claude Karger: Das hat tatsächlich auf der A-Sektion angefangen. Ich habe das „Kolléisch“ besucht und engagierte mich in einem Projekt für eine Schülerzeitung. Das hat mich begeistert. Ich habe jahrelang mit daran geschrieben, Karikaturen gesammelt und Fotos gemacht, was zu dem Zeitpunkt noch sehr handwerklich war. Alles musste kopiert und die Fotos entwickelt werden. Es war eine tolle Erfahrung und gleichzeitig der Schlüsselmoment, der mich zur Überlegung brachte, das Ganze vielleicht einmal professionell machen zu wollen. Um mich dem Beruf anzunähern, habe ich anschließend meine ersten Praktika in der Lokalredaktion des Tageblatt gemacht, wo ich meine Liebe zum Schreiben und zur Sprache dazu, mich auszudrücken, mitzuteilen und Dinge zusammenzufassen, entdeckt habe.
Melody: Noch etwas, das uns verbindet. Mein erstes Praktikum habe ich 2012 – mit 19 Jahren – beim Tageblatt gemacht.
Claude: Dort haben viele angefangen. Wie war das denn bei dir?
Melody: Das Schreiben hat mich schon immer begleitet. Ich habe mich früh für Sprachen und Geschichten interessiert. Ich lese sehr gerne und viel, weil es mir Spaß macht, so viele Blickwinkel wie möglich kennenzulernen. Das Lesen eröffnet einem so viele Welten. Das Praktikum hat mir damals so gut gefallen, dass ich als Korrespondentin weitergearbeitet habe. Als ich die „Première“ abgeschlossen hatte, habe ich mir – wie vermutlich jeder – die große Frage gestellt „Was mache ich jetzt?“. Weil ich Erfahrungen sammeln wollte, entschied ich mich dazu, ein Jahr lang als Korrespondentin für das Tageblatt zu arbeiten. Ich war immer wieder über einen längeren Zeitraum in der Redaktion und habe dort mitgearbeitet. Diese Zeit hat mir gezeigt, wie gerne ich den Job ergreifen würde. Deshalb habe ich mich für ein Online-Journalismus-Studium in Berlin entschieden.
Claude: Dort liegt die Generation zwischen uns. Als ich im Journalismus angefangen habe, gab es noch Modems mit 9,6kb/s-Übertragungsgeschwindigkeit.
Melody: Ich kann mich tatsächlich an die Zeit erinnern, als Telefonieren und Surfen nicht gleichzeitig möglich war.
Claude: Heute ist das gang und gäbe. Das Internet ist zum Hauptkanal für die Übermittlung von Informationen geworden.
Melody: Zu deinen Anfangszeiten muss die Recherchearbeit noch ganz anders ausgesehen haben. Journalist*innen konnten nicht mal eben etwas in die Suchmaschine eingeben.
„Ich habe die ersten informatischen Umstellungen, die zwischen 1996 und 2000 gemacht wurden, aktiv begleitet.“
Claude Karger – Chefredakteur des Lëtzebuerger Journal 2005-2020
Claude: Wir haben mit dem guten alten Telefonbuch, dem eigenen Netzwerk und dem Netzwerk der Redaktion gearbeitet. Ein Großteil der Recherchearbeit lief über Telefonate und natürlich durch viel Präsenz vor Ort. Ich erinnere mich an die Berge von Pressemitteilungen auf den Schreibtischen in der Imprimerie Centrale, in der sich die Redaktion des Lëtzebuerger Journal damals noch befand. Die Texte mussten korrigiert werden und auch hier gab es wieder Berge an Korrekturfahnen, also vorläufige Ausdrucke der Artikel, die korrigiert werden mussten. Die Texte wurden per Rohrpost zum richtigen Dienst geschickt, wo sie in die richtige Schrift gebracht wurden. Danach wurden sie per Hand auf Seitenvorlagen geklebt, die dann wieder für das Druckverfahren fotografiert wurden. Da gab es manche abenteuerlichen Situationen. Es ist lange her, gleichzeitig ist es gar nicht lange her. Wir sprechen von 30 Jahren, in denen sich die Medienwelt so sehr verändert hat. Die ersten informatischen Umstellungen, die zwischen 1996 und 2000 gemacht wurden, habe ich aktiv begleitet. Ich war von Anfang an bei den Digitalisierungsprozessen dabei.
Melody: Erinnerst du dich an eine prägnante Erfahrung in deiner Karriere als Journalist?
Claude: Es gibt viele prägnante Erfahrungen und es ist schwer, eine hervorzuheben. Ich erinnere mich an schwierige Momente, als die Affäre Wolter-Roemen, ein Rechtsstreit zwischen dem damaligen Chefredakteur des Lëtzebuerger Journal und dem CSV-Minister Michel Wolter, angefangen hat. Es gab Durchsuchungen in der Redaktion. Das war eine außergewöhnliche Erfahrung.
Melody: Wie war das damals? Ihr saßt also an euren Schreibtischen, als die Polizei die Redaktion durchsuchte?
Claude: So ähnlich. Die Polizeibeamten standen mit einem Durchsuchungsbeschluss vor der Tür. Sie haben alles durchsucht und Ordner mitgenommen. Das war der Anfang einer Affäre, die Journalismusgeschichte geschrieben hat, weil sie vor allem auch den Quellenschutz gestärkt hat. Rob Roemen ist leider 2012 auf tragische Weise verstorben. Teile des Falls hängen allerdings immer noch beim Europäischen Gerichtshof an.
Melody: Gibt es noch ein historisches Ereignis, das dich in deiner Karriere besonders markiert hat?
Claude: Ich habe im Dossier Bommeleeër sehr viel recherchiert. Schon während der Anschläge hat das Lëtzebuerger Journal versucht, die möglichen Verbindungen zwischen den Attentaten herauszufinden. Die Lage war damals äußerst angespannt und es gab sogar Bombendrohungen gegen die Druckerei des Journal. Wir waren übrigens die erste Zeitung, die geschrieben hat, dass die Ermittlungen abgeschlossen waren und wir haben den Prozess natürlich eingehend begleitet. Unser damaliger Gerichtschroniker Pierre Welter, Laurent Graaff von der Revue und ich haben 2014 ein Buch herausgebracht, in dem wir den Ablauf des Prozesses aufzeichnen, der im Juli 2013 abgebrochen wurde. Darin haben wir zudem auch in Zusammenarbeit mit den RTL-Spezialisten der Affäre die ganze Vorgeschichte der Causa Bommeleeër aufgearbeitet. Die Recherchearbeit war spannend, wir mussten dafür viele Dokumente und Archive durchforsten und haben mit Kollegen aus Italien, Belgien und der Schweiz etwa zusammengearbeitet.
Fällt dir eine Story ein, in deren Recherche du besonders viel Arbeit gesteckt hast?
Melody: Ein Interview, das mir viel Freude bereitet hat und auf das ich mich intensiv vorbereitet hatte, war das mit Fausti Cima. Als Kind habe ich die Hörgeschichten von Jang Linster geliebt. Mit der Stimme aus diesen Geschichten zu sprechen, war großartig. Fausti hat während des Gesprächs immer wieder angefangen zu singen und wir haben eine Menge gelacht. Es gibt eine weitere, eher traurige Recherche, die mir besonders im Gedächtnis geblieben ist. Ich habe mit Angehörigen gesprochen, deren Liebste während der Pandemie alleine sterben mussten, weil niemand sie im Krankenhaus oder im Pflegeheim besuchen durfte. Das waren sehr emotionale Interviews, nach denen ich das ein oder andere Mal auch weinen musste.
Claude: Eine Geschichte, an die ich mich ein Leben lang erinnern werde, war ein Interview mit einer autistischen Person. Es war eine Herausforderung, nicht nur zu ihr durchzudringen, sondern auch dem Gespräch zu folgen. Wir unterhielten uns nämlich in sechs verschiedenen Sprachen.
Melody: Und du hast alle sechs Sprachen verstanden?
Claude: Tatsächlich alle bis auf Latein. Auf Italienisch, Französisch, Deutsch, Englisch und Spanisch konnte ich ihr folgen.
Melody: Das erinnert mich an meine Reportage über das Gebärdensprache Kafé im Escher Kafé. Das war sehr herausfordernd, weil ich während des Interviews weder aufnehmen noch mitschreiben konnte. Ich musste die Person schließlich ansehen, während sie in Gebärdensprache mit mir sprach und die Lippen dazu bewegte.
Claude: Das zeigt einem auf, was die Person, die einem gegenübersitzt, für Herausforderungen im täglichen Leben bewältigen muss.
Melody: Absolut. Es war besonders interessant, weil es eben eine umgekehrte Welt war. Die Menschen dort im Café haben nur in Gebärden miteinander gesprochen und ich habe nichts verstanden. In der Regel sind sie es, die sie in einer solchen Situation ausgeschlossen fühlen. Dadurch konnte ich mich besser in ihre Lage hineinversetzen.
Claude: Gibt es ein journalistisches Format, welches du bevorzugst?
Melody: Ich mag es, Porträts über interessante Menschen zu schreiben und sie tiefer gehend vorzustellen. In Reportagen zu beschreiben, was passiert, wie Menschen sich verhalten, sie zu fragen, wie sie sich in Zusammenhang mit verschiedenen Gegebenheiten fühlen – das ist mir wichtig. Wer sich genügend Zeit für die Vorrecherche nimmt, kann auch tolle Interviews schreiben. Ich würde mich ungern auf ein Format festlegen – jede Geschichte hat ihr Format, das gerade am besten passt, und dann fügt sich der Artikel.
Gibt es eine fiktive Person, die du gerne interviewt hättest?
Claude: Professor John Keating aus Dead Poets Society hätte ich gerne interviewt. In dem Film von Peter Weir aus dem Jahr 1989 ist er ein Professor in einem konservativen Internat in Vermont. Er versucht Literatur auf unkonventionelle Art zu vermitteln. Ich hätte ihn gerne gefragt, wie es bei ihm dazu kam, dass er Literatur anders vermitteln wollte. Der Film hat mich schon in meiner Studentenzeit stark inspiriert, mich mit Literatur auseinanderzusetzen. Ich hätte zudem gerne den Schauspieler interviewt, der ihn dargestellt hat, – das war Robin Williams. Er hatte eine ganze Bandbreite an Facetten und ich hätte gerne mit ihm über das Leben gesprochen. Williams war ein Entertainer, gleichzeitig aber auch eine sehr fragile Person, die sich überwinden musste, um derart locker rüberzukommen. 2014 hat er sich traurigerweise umgebracht.
Wen würdest du denn gerne einmal interviewen?
Melody: Mir fällt auf Anhieb echt niemand ein. Ich frage mich, ob das daran liegt, dass mir eigentlich gar nicht so viel daran gelegen ist, große Persönlichkeiten zu interviewen. Es interessiert mich viel mehr, mit allen möglichen Menschen zu sprechen, die vielleicht nicht unbedingt bekannt sind, aber etwas Wichtiges zu erzählen haben.
Claude: Wieso hast du dich eigentlich für das Journal-Projekt entschieden?
Melody: Weil das Journal sich traut. Es traut sich, etwas Neues und Innovatives zu tun und sich aus dem Gedanken der traditionellen Medien zu befreien - mit vollem Engagement und Herz. Das ist eine Herausforderung, der sich alle Medien stellen müssen. Meiner Meinung nach ist das die einzige Option, die bleibt – für die Presse weltweit. Ich glaube nicht, dass Print ganz verschwindet, es gibt Zeitungen, die sich halten werden. Aber die Zukunft ist online. Es ist eine einmalige Gelegenheit, etwas von Grund auf mit aufzubauen und ich habe die Chance, mit dabei zu sein.
„Es gibt nicht genügend Frauen in der luxemburgischen Medienwelt. Ich wünsche mir, dass mehr junge Journalistinnen sich Führungspositionen zutrauen – und sie ihnen zugetraut werden.“
Melody Hansen – Chefredakteurin Lëtzebuerger Journal
Claude: Wie war deine Reaktion, als dir der Posten als Chefredakteurin angeboten wurde?
Melody: Ich bin ein Mensch, der gerne Herausforderungen annimmt – und ich lasse Chancen ungern an mir vorbeiziehen. Ich weiß, dass wenn ich die Herausforderung annehme, ich über mich hinauswachse und dazulerne. Und das ist genau das, was ich will. Aus diesem Grund bin ich immer offen für konstruktive Kritik. Nur wer sich selbst reflektiert, kann sich weiterentwickeln. Der erste Posten, den ich mit diesem Gedanken im Hinterkopf angenommen habe, war der als Sekretärin bei der ALJP. Danach kam die Vizepräsidentschaft im Presserat. Als ich gefragt wurde, ob ich die Chefredaktion des Lëtzebuerger Journal übernehmen will, bestand eigentlich kein Zweifel, dass ich das machen will.
Der zweite Punkt ist, dass ich sowohl in der ALJP als auch im Presserat und in der luxemburgischen Presse allgemein einfach feststellen musste, dass es sehr wenige Frauen gibt. Noch weniger davon besetzen Führungspositionen. Ich finde es allerdings sehr wichtig, dass Frauen mitentscheiden, worüber in unserer Gesellschaft gesprochen wird. Weil einfach andere Themen aufkommen. Ich habe in den letzten Jahren über viele Problematiken geschrieben, von denen ich zuvor nie gehört hatte – weil sie kaum thematisiert werden. Gewalt in der Geburtshilfe oder Endometriose sind zwei Beispiele. Ich habe mich oft genug darüber aufgeregt, dass es nicht genügend Frauen in der luxemburgischen Medienwelt gibt. Wenn ich also die Chance bekomme, dazu beizutragen, dass sich das ändert, sage ich mit Sicherheit nicht nein. Ich wünsche mir, dass noch mehr junge Journalistinnen sich das zutrauen – und es ihnen zugetraut wird.
Claude: Die neue Redaktion ist sehr ausgeglichen, was die Geschlechter betrifft. Das war beim Lëtzebuerger Journal schon lange der Fall. Wir waren immer auf ungefähr 50 Prozent Frauen und Männer in unterschiedlichen Verantwortungspositionen. Darauf habe ich gehalten und es ist gut, darauf acht zu geben. Da braucht das Journal sich nicht zu verstecken.
Melody: Erinnerst du dich noch, wie es für dich war, als du damals Chefredakteur wurdest?
Claude: Das war zu einer Zeit, in der Rob Roemen nach über 30 Jahren beim Lëtzebuerger Journal in den wohlverdienten Ruhestand getreten ist. Die Fußstapfen, in die ich treten sollte, waren tief. Rob Roemen hat mir eine Menge beigebracht. Und er hat immer gesagt: „Du musst das übernehmen“. Er hat mich also schon darauf vorbereitet. 2005 wurde mir der dann Posten anvertraut.
Melody: Weißt du noch, wie dein erster Tag als Chefredakteur war?
Claude: Es war schon länger angekündigt worden, dass ich den Posten übernehmen sollte. Ich hatte immer – auch in der Zeit, in der ich nicht beim Journal eingestellt war – engen Kontakt mit der Zeitung und habe für sie geschrieben. Dadurch sind die Kontakte mit dem Team nie abgebrochen, was die Akzeptanz der Kollegen gesteigert hat. Danach musste ich mich natürlich in die Dossiers einarbeiten. Zusätzlich waren wir gerade mitten in einer Umstellung des Redaktionssystems, als ich den Posten übernahm. In Redaktionen ist es ja generell so, – sobald eine Änderung kommt, ist die Aufregung groß. Nach zwei, drei Tagen haben sich dann alle wieder beruhigt.
Melody: Gibt es etwas, was du deinem 33-jährigen Chefredakteur-ich mit auf den Weg geben würdest?
Claude: Ich würde ihm sagen, dass er besser zuhören muss, bei allem, was um ihn herum passiert. Dass er die Antennen so gut wie möglich ausfahren soll. Sowohl bei den Arbeitskolleginnen und -kollegen als auch bei den Partnern und natürlich bei der Leserschaft. Früher war es etwas schwieriger, den Kontakt mit der Leserschaft zu halten. Es gab zwar Anrufe, die Menschen haben heute allerdings weniger Hemmungen, eine E-Mail zu schreiben.
Melody: Oder auf den sozialen Medien zu kommentieren.
Claude: Mit den sozialen Medien ist das Mitteilungsbedürfnis jedenfalls größer geworden. Das Feedback, das davor mit ein wenig Verzögerung und wohl etwas gefilterter kam, ist jetzt unmittelbar.
Melody: Und was würdest du mir als junge Chefredakteurin mit auf den Weg geben?
Claude: Das gleiche, was ich mir selbst gesagt hätte: Die Antennen ausfahren und die Ohren immer weit offen halten. Vor allem natürlich für diejenigen, die die Inhalte des Lëtzebuerger Journal lesen. Der Input der Leserschaft ist wichtig, aber auch das Feedback der Kollegen. Und es hilft, sehr viel zu lesen, in Dossiers einzutauchen - dann tun sich viele Themen auf.
Welche Akzente willst du in Zukunft setzen?
Melody: Inklusion und Menschlichkeit sind mir sehr wichtig. Dass sich jeder in den Inhalten des Lëtzebuerger Journal wiederfindet und so viele Lebensrealitäten wie nur möglich dort abgebildet werden. Die Leserschaft soll Thematiken aus mehreren Blickwinkeln kennenlernen, – auch um mehr Verständnis für die Menschen und die Welt um sie herum aufbringen zu können. Komplexe Zusammenhänge sollen öfter auf den Einzelnen heruntergebrochen werden. Wie wirkt sich eine Entscheidung auf hohem Niveau auf den Einzelnen aus? Was bedeutet das für seinen Alltag? Diese Dinge liegen mir am Herzen.