Editorial - Die Lüge der pragmatischen Technologieoffenheit

Von Misch Pautsch

Wenn in einem Parlament das Wort "Regulierung" fällt, ist aus der Ferne sofort der panische Kampfschrei der Technologieoffenheits-Fetischist*innen zu vernehmen: "Ihr bremst Innovation! Pragmatismus! Wir müssen technologieoffen bleiben!" Dabei machen Regeln nicht nur die Gesellschaft sicherer, sie sind oft Anlass für Innovationen.

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Erinnerst du dich noch an Blei im Benzin? An das Ozonloch? An krebserregenden Asbest in Wänden? Wahrscheinlich nur vage. Denn all diese teils tödlichen Praktiken wurden durch Regulierung aus unserem Alltag verbannt – nicht ohne dass die Industrie vorher jedes Mal Krokodilstränen vergoss.

Ford-Präsident Lee Iacocca sah in der Einführung des Abgaskatalysators eine existentielle Gefahr für die Automobilbranche. Das Unternehmen, das nicht weniger als das Fließbandverfahren einführte, werde dichtmachen, so die Warnung. Die Einführung von Sicherheitsgurten verleitete Hersteller dazu, Verkaufseinbrüche zu prophezeien – weil Gurte "ihre Designs zerstörten". Das Montreal-Protokoll zum Schutz der Ozonschicht wurde von Teilen der Industrie als kaum umsetzbar und finanziell ruinös bezeichnet; das Bleiverbot im Kraftstoff von Angstmacher-Kampagnen begleitet, die Alternativen als noch gefährlicher darstellten.

Ford ging nicht unter. Es fahren mehr Autos auf unseren Straßen als je zuvor – alle mit Sicherheitsgurt. Unsere Häuser sind so gut isoliert wie nie zuvor, und auf Kindergeburtstagen fliegen immer noch Luftballons. Das Ozonloch ist dabei, sich zu schließen.

Nicht ganz die dystopische Zukunft, die die Industrietitanen heraufbeschworen haben. Tatsächlich haben diese Gesetze (von Millionen geretteten Menschenleben ganz zu schweigen) Innovation nicht ausgebremst, sondern gefördert. Glauben wir ernsthaft, Unternehmen hätten ihre profitträchtigen Praktiken aus reiner Nächstenliebe aufgegeben, wenn die Politik sie – "pragmatisch technologieoffen" – nicht dazu gezwungen hätte?

Man kommt nicht umhin festzustellen, dass genau jene Stimmen aus Industrie und Politik, die am lautesten "Technologieoffenheit" und "Pragmatismus" rufen, sich der Einführung echter neuer Technologien am konsequentesten in den Weg stellen.

Nehmen wir den Verbrennungsmotor, der – nebenbei – nicht verboten wird: Hier wetten viele auf einen Quantensprung bei einer Technik, die seit Jahrzehnten nur minimal-inkrementale Fortschritte macht. In 30 Jahren stieg der Wirkungsgrad typischer Pkw-Verbrenner von etwa 30 auf rund 40 Prozent – der Rest verpufft als Abwärme. Drei Jahrzehnte Forschung mit der geballten Kraft der globalen Autoindustrie … für zehn Prozentpunkte.

Die ohnehin traurige Bilanz ist in der Praxis noch erbärmlicher: Zwischen 2016 und 2019 stiegen die durchschnittlichen CO₂Emissionen neuer Pkw in Europa sogar wieder, weil die Leute größere und entsprechend stärkere Autos bevorzugen.

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