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Dubai, London, Rio – Tom Habscheid stand bereits in vielen Leichtathletik-Anlagen, denn der Kugelstoßer zählt aktuell zu den internationalen Oberreitern seiner Kategorie. Dass der 34-Jährige trotz Handicap so einiges draufhat, zeigte er auch bei den Vorbereitungen für die morgen startenden Paralympischen Sommerspiele in Tokio.
„Sollen wir dich jetzt bedauern oder machst du das freiwillig?“ Mit ernster Miene und einem leichten Zucken im Mundwinkel neckt Fernand Heintz seinen Sport-Schützling, der nach einer Runde Hürdenlauf schwitzend vor der Hantelbank steht. Dreimal pro Woche trainiert Tom Habscheid vor Beginn der Paralympischen Sommerspiele 2021 im HPTRC (High Performance Training & Recovery Center) der Coque mit seinem Coach, dies zusätzlich zum Kugelstoß-Training auf dem Feld in Düdelingen. Seit sechs Jahren sind der 34-Jährige und sein Mentor ein Team, seit Wochen und Monaten müssen beide sich nun körperlich und mental auf die Spiele vom 24. August bis zum 5. September in Tokio vorbereiten.
„Die Wochen vor dem Meeting sind entscheidend, dann machen wir viel explosives Training mit kurzen Sätzen und leichten Gewichten“, erklärt Tom das Planning. Auf seinem Smartphone sieht der Sportler genau, was sein Coach an Übungen für den Tag vorgesehen hat, denn diese sind exakt auf seine Leistung abgestimmt. Erst Indoor-Radeln zum Aufwärmen, dann Stemm-Serien und anschließend Hürdenlauf und Bankdrücken, um Explosivität und Kraft aufzubauen. „Tom trainiert als paralympischer Athlet nicht anders als alle anderen, er übt Läufe, Sprünge, macht Muskelaufbau und geht zu Trainingslagern. Nur Ausdauer, die bekommen wir mit ihm und seinem Bein nicht hin“, meint Fernand.
Vom Fußballer ohne Lizenz zum Para-Athlet
Der pensionierte Sportler war selbst lange Zeit Bestreiter von Wettbewerben und holte insgesamt 19 Mal den Landesmeistertitel nach Hause. Gemeinsam aufs Podium haben er und sein Athlet es allerdings nicht mehr geschafft, dennoch weiß der „Oldie“ den Jüngling noch so einiges zu lehren. „Einmal hat Tom ganz eifrig auf Facebook angekündigt, er würde seinen Trainer platt machen. Das hat allerdings eher nicht so gut geklappt“, verrät Fernand schmunzelnd. „Er ist halt ein alter Fuchs“, gibt Tom schulterzuckend zu und meint: „Wenn ich irgendwann einmal Trainer bin, dann werde ich meine Sportler aber genauso fertigmachen wie er mich jetzt.“
Das Duo kennt sich in- und auswendig, denn als Hochleistungssportler mit Weltniveau verbringt Tom fast mehr Zeit mit seinem Trainer als Zuhause. Seine Karriere als semi-professioneller Kugelstoßer fing dabei eher auf Umwegen an, denn vor fast zehn Jahren war die Teilnahme an Paralympia noch in weiter Ferne. „Ich habe als Jugendlicher immer Fußball gespielt, bekam aufgrund meines Handicaps allerdings nie eine Lizenz, so dass ich nie wirklich offiziell Sport treiben konnte“, erinnert er sich. 2012 sah der gebürtige Useldinger die Kampagne für die Paralympischen Spiele in London im Fernsehen – und war begeistert. „Das gab es in dem Maße in Luxemburg noch überhaupt nicht.“
Fußballspielen mit Behinderung erschien dem jungen Sportler als knifflig, da man hierfür gleich eine ganze Mannschaft an paralympischen Spielern gebraucht hätte. Leichtathletik mit all seinen Einzeldisziplinen war hingegen eine reellere Option, so dass sich Tom dem Diskuswerfen widmete. Der nahegelegenste Club war Diekirch und hier war es auch, wo der angehende Athlet seine ersten Schritte in Richtung Hochleistungssport machte. „Das hat natürlich nicht auf Anhieb geklappt“, gesteht der 34-Jährige. Beim regelmäßigen Training merkte der junge Luxemburger jedoch schnell, dass er ein gewisses Feeling für die Sportart mit der Scheibe hatte und nach nur zwei Monaten fand er sich beim Wettkampf im französischen Dampicourt wieder.
2013 warf Tom dann unbewusst mit 36 Metern die Mindestweite für Olympia – und eröffnete sich damit neue Türen: „Wir haben dann beim Paralympischen Komitee eine Wildcard angefragt und kurze Zeit später durfte ich zur Weltmeisterschaft nach Lyon, wo ich meine Bestleistung von über 39 Metern warf und Fünfter wurde.“ Ab da ging alles auf einmal schnell: Über seinen Trainer erhielt Tom Kontakte zu Coaches in Brügge, wo er von dem Moment an professionelles Mentoring erhielt. 2014 wurde er Zweiter bei der Europameisterschaft, ein Jahr drauf folgte erneut die Teilnahme an der Weltmeisterschaft. „Ich hatte gar keine Zeit zu reagieren, sondern habe einfach nur gemacht“, sagt der Sportler.
Bei den Spielen in Birmingham einen Tag nach der EM im walisischen Swansea traf der Athlet zum ersten Mal auf die wahren Größen der internationalen Leichtathletik, denn hier tummelte sich nicht nur die Crème de la Crème der paralympischen Szene, sondern ebenfalls die Oberliga der „normalen“ Athletik: „Da versteht man die Welt nicht mehr, wenn plötzlich Usain Bolt, Christina Schwanitz oder Robert Harting an dir vorbeilaufen.“ 2014 sollte jedoch das Jahr der persönlichen Wendung für den Diskuswerfer sein, denn die Disziplin wurde in seiner Kategorie aus dem Programm gestrichen. Noch im selben Jahr versuchte sich Tom deshalb erstmals an der anderen Art des Stoßens und entschied sich 2018 dafür, den Fokus komplett auf die Kugel zu legen.
„Da versteht man die Welt nicht mehr, wenn plötzlich Usain Bolt, Christina Schwanitz oder Robert Harting an dir vorbeilaufen.“
Tom Habscheid, Kugelstoßer
„Er war zwar im Diskurswerfen talentierter, aber sein zweites Standbein erlaubte es Tom, weiterhin an internationalen Wettkämpfen teilzunehmen und so bis ganz an die Spitze zu kommen“, meint Trainer Fernand. Den Weg nach Tokio ebnen er und Tom nun bereits seit 2019, denn durch eine Konvention mit dem Staat konnte der Athlet seine Karriere zum Halbprofi umkrempeln. Der Rhythmus von 20 Stunden Training und 20 Stunden in seinem Job am Empfang des Düdelinger CNA (Centre National de l’Audiovisuel) bekommen dem Sportler gut, das zeigen die herausragenden Resultate der letzten Jahre. Bereits im November 2019 trat der Kugelstoßer beim Outdoor-Grand-Prix in Dubai an den Start und verließ das Meeting prompt mit einem neuen Weltrekord.
Seither ist es jedoch etwas ruhiger um den Para-Athleten der Klasse F63 – „F“ für „field“ und die Nummer 63 als Grad seiner Behinderung – geworden, dies bedingt durch eine rezente Knieverletzung und Corona. „Vor 2020 hatten wir einen kompletten Jahresplan, mit Schnell- und Aufbauphasen. Ab Februar hat sich dies jedoch komplett verflüchtigt und während einem ganzen Jahr gab es überhaupt keine Wettkampfphase mehr“, erklärt Fernand. Die Zeit habe das Trainer-Sportler-Duo jedoch genutzt, um physische Defizite, wie etwa Toms Rumpfstabilität, nachzubessern und am Gewicht des 34-Jährigen zu arbeiten. „Das Timing von Corona war wirklich ideal, so dass ich Glück im Unglück hatte“, meint Tom.
Die richtige Prothese für jede Übung
Ein Ödem in seinem Knie war durch die jahrelange einseitige Belastung und einen unbehandelten Knorpelriss entstanden, konnte mithilfe der auferlegten Pause und LIHPS’ (Luxembourg Institute for High Perfomance Sports) „Injury Prevention, Return to Sports and Performance“-Experte Jérôme Pauls‘ Übungen jedoch so auskuriert werden, dass Tom nun wieder mit voller Kraft trainieren kann. Dass sich der Para-Athlet dabei anderen Hürden stellen muss als seine Teamkollegen des Cercle Athlétique Dudelange, zeigen die Erklärungen seines Trainers: „Wenn nur ein Bein da ist, kann man eine Verletzung nicht mit dem anderen ausgleichen oder mal einen Monat auf Krücken laufen.“
Auch bei der Nutzung seiner Prothesen muss Tom so manches beachten, denn nicht jedes Bein passt zu jeder Aktivität, so der Sportler: „Für das Krafttraining nehme ich immer meine alte Prothese. Der Carbonfuß ist eigentlich nur für ein Gewicht bis 150 Kilo genormt, ich alleine wiege allerdings bereits 95 oder 96 Kilo und wenn ich dann nochmal 100 auf den Buckel nehme, leidet die Prothese schon ordentlich.“ Für Diskus besitzt er auch ein anderes Bein als fürs Kugelstoßen, denn: „Mein Diskusfuß ist leicht angespitzt und man kann ihn verstellen, weil man beim Diskuswurf drehen können muss. Der Kugelstoßfuß hingegen ist flach und hat ein Rotationsgelenk.“
Seine Alltagsprothese fürs verkürzte linke Bein, die Tom zu Beginn auch fürs Training nutzte, zieren die Charaktere aus der Anime-Serie Dragon Ball Z, während das rechte Bein mit dem Tattoo-Porträt des britischen Skispringers Michael Edwards geschmückt ist. „Eddy the Eagle wurde bei Wettbewerben immer der Letzte und ihm wurden viele Steine in den Weg gelegt. Dennoch hat er nie aufgegeben und das finde ich bewundernswert“, erklärt Tom die Motivwahl. Sein großes Vorbild sei allerdings sein Trainer, der ihn durch sein Wissen und seine gutgemeinten Beleidigungen immer wieder aufs Neue motiviert – und das, obwohl Tom von Fernand bis dato keine Komplimente für sein akribisches „pain monitoring“, also das Bewerten des Schmerzgrades während seiner Verletzungsphase, erhalten hat. „Mir sagt ja auch keiner Danke für meine Arbeit“, kontert der Trainer neckisch.
Die Voraussetzungen für die richtige Kugelstoßtechnik, die Tom vor Beginn der Paralympischen Spiele dreimal die Woche auf dem Leichtathletikfeld in Düdelingen trainiert, könne man in der Coque nur schlecht simulieren, da hier aktuell die Piste renoviert wird und somit der Stoßkreis und -balken („butoir“) fehlen, so Fernand. Dafür hat der Athlet unter seinen Fittischen jedoch neue, zusätzliche Trainingsmöglichkeiten entdeckt. „Ich habe letztes Jahr mit Yoga angefangen, um diesen Adonis-Körper geschmeidiger werden zu lassen“, meint Tom lachend. Daneben begleiten ihn ein Mentalcoach, sein Physiotherapeut, der ihm dieses Jahr zum ersten Mal für sein Trainingslager vor Tokio von der Föderation zur Verfügung gestellt wird, sowie seine Ernährungsberaterin, die für den richtigen „Treibstoff“ sorgt. Dass der junge Para-Athlet sich dann doch mal nach einem harten Bauchmuskeltraining Pizza, Burger und Pommes gönnt, ist dabei ihr kleinstes Problem.
Die Geschichte vom „falschen Fuß“
„Vor einem Wettkampf gehe ich meinem Team immer so richtig auf die Nerven“, verrät Tom. „Die Energie will einfach raus. Das ist nicht mal Lampenfieber oder Nervosität, ich bin am ersten Tag eines Meetings einfach vollgeladen. Durch das ganze Training fühlt man sich, als könne man Berge versetzen, vor allem da mich mein Trainer kurz vor knapp nicht mehr bis zur Erschöpfung trainieren lässt und ich dann Energie im Überfluss habe.“ Dass im Eifer des Gefechts dann schon mal die ein oder andere Panne passieren kann, können Tom und Fernand mit einer ganzen Palette an Anekdoten belegen. „Ich erinnere mich an eine Szene in Dubai, als Tom seine Prothese im Taxi liegen gelassen hat, direkt vor dem Meeting“, verrät der Coach.
„Oder der falsche Fuß“, meint er und wird vom betroffenen Tollpatsch ergänzt: „Das war in Tunesien, da hatten wir irgendwie aneinander vorbeigeredet und ich dachte, ich würde Diskuswerfen. Nach dem Aufwärmen fragte mich Fernand, wann ich denn meinen Kugelstoßfuß anziehen würde und ich nur so: Hä?!“ Acht Jahre des Wettkampfes, das bedeute nun mal zahlreiche Medaillen, aber auch zahlreiche Meetings, bei denen es nicht so rosig lief. „In Doha waren wir zu zwölft in meiner Kategorie, deshalb bin ich auch als Neunter rausgeflogen. Das war der schlechteste Wettkampf, den ich je hatte und das auch noch bei einer Weltmeisterschaft!“
Generell erinnert sich der Athlet jedoch vor allem an die guten Würfe, vor allem die in England. „Das sind die geilsten Meetings, denn die Briten sind eine Nation der Sportbegeisterten“, so Tom. Die WM 2019 in Dubai, der Grand-Prix 2018 in Berlin, London 2017 und Rio 2016, als er zwar nur Siebter wurde, jedoch seine persönliche Bestleistung warf, all dies sind Momente, an die er gerne zurückdenkt. „Man erreicht in jeder Saison einen gewissen Peak, aber man weiß natürlich auch nie, wie die anderen Athleten drauf sind. Darauf hat man keinen Einfluss.“
Trainer und Trainierter verfolgen dabei stets realistische Ziele, so Tom: „Wir schauen immer, was die Statistiken hergeben. Ich würde allerdings schon sagen, dass ich als Vizeweltmeister und Rekordhalter in meiner Kategorie vorne mithalten kann. Der Rest ist dann Bonus.“ Man kenne die definitive Startliste bis kurz vor knapp nicht und vor allem seit Corona sei die Konkurrenz zunehmend wie ein Überraschungsei, da man durch den Ausfall zahlreicher Grand-Prix einfach keinen mehr zu Gesicht bekomme, betont der Coach.
Toms Determination, bei Tokio so richtig abzusahnen, sieht man dem jungen Vater von zwei Söhnen dennoch förmlich an. Unter dem Tattoo des Skispringers zieren die Olympischen Ringe das Bein des Para-Athleten, denn der „Adaptermensch“, wie Tom sich und andere paralympische Sportler nennt, weiß, was man auch mit Behinderung draufhaben kann. Nach dem Trainingslager in Lanzarote ist die Delegation – bestehend aus vier Leuten – nun startklar in Tokio. „Die Drei Musketiere“, wie Tom das Trainer-Athlet-Missionschef-Trio bezeichnet, sowie ein Coronabeauftragter, gehören zum kleineren Teil der Spiele, denn während bei den „normalen“ Athleten das Olympische Dorf stets bis zum Bersten gefüllt ist, sind die kleinen Gassen und Häuser während der Paralympics eher leer.
„Tom trainiert als paralympischer Athlet nicht anders als alle anderen, er übt Läufe, Sprünge, macht Muskelaufbau und geht zu Trainingslagern. Nur Ausdauer, die bekommen wir mit ihm und seinem Bein nicht hin.“
Fernand Heintz, Trainer
Doch Tom weiß das Privileg, dabei sein zu können, zu schätzen: „Nicht viele Menschen bekommen die Möglichkeit, ein Teil der Olympischen oder Paralympischen Spiele zu sein, das ist schon eine coole Erfahrung.“ Sein eigenes Meeting findet erst am allerletzten Tag der Wettkämpfe, also dem 4. September statt. Die Reise nach Japan startete allerdings bereits am 22. August, denn Tom durfte hier die Luxemburger Flagge tragen. „15 Tage sind allerdings relativ lange, denn vor Ort lebt man in einer Blase und hat nicht dieselbe Bewegungsfreiheit, wie sonst“, meint Fernand. Doch als einziger Para-Athlet der Luxemburger Mannschaft ist der Kugelstoßer nunmal die einzige Option dieses Jahr, so dass er sich nicht nur bereits zur Opening Zeremonie zu den rund 7.000 teilnehmenden Para-Athleten dazugesellt, sondern ebenfalls zum Closing Event bleibt.
Was nach den Spielen sein wird, weiß Tom noch nicht, denn seine Konvention als Semi-Profi gilt nur für Olympia. Vielleicht mehr Zeit für die Familie und sein Hobby Geocaching, denn dafür bleibt als Sportler hohen Niveaus nur wenig Zeit. „Der Preis, den man als Athlet bezahlt, ist hoch. Man muss ständig aufpassen, dass man sich nicht verletzt, auch in der Freizeit und meine Lebenspartnerin und zwei Kinder müssen auch viel Verständnis dafür haben, dass ich oft nicht Zuhause bin“, so Tom. Die Unterstützung von Familie, Freunden und Fans ist jedoch gleichzeitig auch ein Push weiterzumachen, denn Tom liebt es, ihre Zuwendung zu spüren: „Ich bin jemand, der sich gerne von den Zuschauern tragen lässt. Das gibt einem einen gewissen Adrenalinkick.“
Dass für die Sommerspiele dieses Jahr aufgrund der aktuellen Corona-Regeln jedoch kein Publikum anwesend sein wird, sieht der Sportler mit gemischten Gefühlen: „Ich bin es teilweise von hier schon gewöhnt, denn die Leichtathletik-Meetings in Luxemburg sind auch nicht immer sehr besucht.“ Jetzt gelte es sowieso erst einmal, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, nämlich die Kugel so weit zu stoßen, wie nur möglich. Auf die Frage, ob Tom ein gewisses Ritual vor Wettkämpfen durchführt, antwortet der 34-Jährige mit einem Zwinkern: „Einen Energy Drink trinken, meine Startnummer haben und aufpassen, dass ich nichts vergesse. Vor allem nicht meine Prothese in einem Taxi!“