Verbindung gesucht: Was das Sorgentelefon über unsere Gesellschaft verrät
Von Laura Tomassini, Lex Kleren
In einer Zeit, in der Krisen, Kriege und KI den Alltag bestimmen, suchen immer mehr Menschen nach etwas ganz Einfachem: einem offenen Ohr. Obwohl die Zahl der Anrufe beim Sorgentelefon seit Jahren stabil bleibt, verändern sich die Themen: Einsamkeit, Suizidgedanken, Beziehungsprobleme. Warum das Zuhören heute ein Akt der Solidarität ist – und welche wichtige Rolle Freiwillige dabei spielen.
Die Pandemie ist überstanden, die Dinge in Luxemburg nehmen wieder ihren gewohnten Lauf, doch die Welt insgesamt hat sich in den letzten Jahren verändert – durch neue Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz, vor allem aber politische Wechsel und Konflikte, die das allgemeine Verständnis von Demokratie in Europa zum Wanken bringen. Mit Veränderungen in der Gesellschaft ändert sich ebenfalls das Bedürfnis von vielen Menschen nach jemandem, der zuhört. Nicht etwa, dass dieses geringer geworden ist – mit über 3.760 bei SOS Détresse eingegangenen Anrufen im Jahr 2024 ist es seit vor der Pandemie in etwa stabil –, sondern die Gründe für das Verlangen nach einem*r Zuhörer*in sind andere.
"Die Themen, die Menschen beschäftigen, sind so vielfältig wie die Menschen selbst", meint Jessica Levy, Psychologin bei SOS Détresse. Das Sorgentelefon mit der Nummer 454545 ist eine Anlaufstelle für all jene, die ein offenes Ohr suchen, eine Person, die unvoreingenommen zuhört. Während in den vergangenen Jahren Sorgen und Ängste um die politische Lage vorrangig waren, haben sich viele scheinbar an die aktuellen Zustände in der Welt gewöhnt und widmen sich wieder persönlicheren Themen, die sie direkt im Alltag betreffen. Eine signifikante "Neuheit" des rezenten "Passé" ist das Thema Einsamkeit, jene soziale Isolation, die es so vor Corona noch weniger gab. Über 550 Anrufe gingen 2024 beim Sorgentelefon ein, die sich um Einsamkeit drehten. Davor waren es stets um die 300 oder maximal 400.
Offenere Gespräche über Suizid
"Es ist zwar reine Spekulation, aber viele waren während der Pandemie allein und soziale Kompetenzen verlernt man schnell. Studenten saßen anstatt in der Uni vorm Notebook, viele haben sich ins Gaming oder Social Media gestürzt und diese Rituale seither beibehalten", versucht sich Direktionsbeauftragte Nadja Bretz an einer möglichen Erklärung. Zwar sei Covid selbst kein Thema mehr, das angesprochen wird, die Nachwehen spüre man aber auf gewisse Weise dennoch, sagt ebenfalls Levy: "Viele Kontakte sind abgebrochen und nicht wieder neu aufgebaut worden und es gab viel Spaltung unter den Menschen. Man denkt vielleicht nicht mehr bewusst an die eine Freundin, mit der man seit fünf Jahren nicht mehr spricht, fehlen tut sie aber trotzdem." Genau darum gehe es auch bei den meisten Anrufen: Beziehungen, seien es jene in der Familie, mit Freund*innen, dem*r Partner*in oder mit Arbeitskolleg*innen.
Eine Beobachtung, die gleichsam besorgniserregend ist und hoffen lässt, ist jene zu Anrufen rund um Suizidgedanken. "Diese haben enorm zugenommen, was erstmal erschreckend wirkt, aber auch ein gutes Zeichen sein kann, da es vielleicht zeigt, dass Menschen sich endlich trauen, über Selbstmord zu reden und sich Hilfe holen, bevor sie sich etwas antun", meint Levy. Insgesamt 127 Gespräche wurden 2024 zum Thema Suizid geführt. Im Vergleich zum Vorjahr waren dies über 40 Prozent mehr. "Es gab sehr viele wertschätzende Artikel und Berichte zu Suizid in den Medien und mentale Gesundheit wird im Allgemeinen viel stärker thematisiert, so dass es einen offeneren Umgang damit in der Gesellschaft gibt, was natürlich eine positive Entwicklung ist", erklärt Bretz.
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