Karteileichen und Ersatzreligionen

Von Misch PautschLex Kleren

Organisierte Religion verliert bei der Bevölkerung in Luxemburg zunehmend an Wichtigkeit – wirklich gläubig sind nur noch wenige. Doch obwohl viele Leute atheistisch sind, bleiben sie bei der Kirche eingeschrieben. Das Lëtzebuerger Journal hat mit Bob Reuter, Präsident der Allianz vun Humanisten, Atheisten an Agnostiker zu Lëtzebuerg (AHA) über Moral, Werte und neue, gefährliche Dogmen gesprochen.

Lëtzebuerger Journal: In Luxemburg sehen sich weniger als die Hälfte der Leute als religiös. Selbst von denen, die sich religiös nennen, gehen fünf von sechs weniger als einmal im Monat in den Gottesdienst. Ist Luxemburg eigentlich noch ein religiöses Land?

Bob Reuter: Eigentlich nicht. Aber es hängt von der Definition ab. Es gibt drei Niveaus, auf denen man einer Religion angehört. Das erste ist die Praxis: Regeln, Rituale, und Einschränkungen im Leben. Beim Katholizismus ist das vor allem die Messe, bei anderen sind es eventuell Einschränkungen bei der Essensauswahl. Alles, von dem man sagen würde, dass man beim Herzen und mit dem Körper bei der Sache ist. Das zweite ist, wirklich glauben, was der die Kirche so behauptet – also tatsächlich „gläubig“ zu sein. Es gibt viele Leute, die zwar nicht mehr aktiv „mitmachen“, aber immer noch „glauben“. Und dann gibt es die, die sich selbst rein kulturell als Mitglied einer Gemeinschaft fühlen. Darum sagen eine ganze Reihe Menschen, sie seien „katholisch“: Weil sie getauft wurden, ohne gefragt zu werden, und dann nie einen Punkt gefunden haben, aus dem System auszusteigen, obschon sie nicht „glauben“. Denn anders, als wenn man beispielsweise ein Mitglied im Automobilclub ist, läuft bei der Kirche die Mitgliedschaft lebenslang einfach weiter – zumindest, solange man keinen guten Grund hat, aktiv auszutreten. Denn um diesen letzten Schritt zu machen, braucht man ein Argument. In Deutschland sehen wir, dass diese Argument oft die Kirchensteuer ist.

Warum ist dieser letzte Schritt, formal auszutreten, oft so schwer?

Ich glaube, weil es im Alltag keinen Unterschied macht. Es ist den meisten Leuten noch nicht einmal die Zeit wert, über religiöse Zugehörigkeit und Glaube nachzudenken – es spielt überhaupt keine Rolle für sie. Der Trick der katholischen Kirche ist natürlich, dass man als Baby ungefragt Mitglied wird und lebenslang bleibt. Das bedeutet eine Asymmetrie des Aufwandes. Wobei man natürlich sagen muss, dass es wirklich nur ein sehr kleiner Aufwand ist. Man füllt einfach bei uns auf der Internetseite ein Formular aus, und innerhalb von einer Woche ist man offiziell ausgetreten. Trotzdem hat man dann immer noch kein greifbares Feedback, sondern einen rein moralischen, symbolischen Effekt: Ich weiß, dass ich jetzt nicht mehr Teil dieses Vereines bin, der Dinge macht, die ich nicht richtig finde.

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