"Geschichte nicht neu schreiben, sondern alles erzählen"

Von Sarah RaparoliLex Kleren

Unsere Schulbücher sind zu männlich, zu weiß, nicht vielfältig genug. Auf die Veröffentlichung einer Studie der hiesigen Uni folgten hitzige Diskussionen, besonders in den sozialen Medien. Was die Forscherinnen dazu sagen und weshalb eine Überarbeitung des Materials wichtig bleibt.

"Ech froen mech ween do lo mei domm ass. Dei verwinnte Jugend dei aus langweil d'Geschicht verännere well, oder d'Medien dei am Summerlach hänken an sou e Sch… zoulossen. Komm mer soen beides." ("Ich frage mich, wer dümmer ist. Die verwöhnte Jugend, die aus Langweile die Geschichte verändern möchte, oder die Medien die im Sommerloch hängen und so eine Sch… zulassen. Komm wir sagen beides.") Das ist ein Auszug eines Kommentars unter dem Facebook-Post von RTL Lëtzebuerg. Im Post geht es um ein Forschungsprojekt, das zu dem Ergebnis gekommen ist, dass mehr männliche als weibliche Charaktere in Schulbüchern zu finden sind und eine größere Diskrepanz bei den Geschlechtern anprangert. Besonders in den Geschichtsbüchern sei dies der Fall. Das und vieles mehr hat Claire Schadeck als "Invitée vun der Redaktioun" (Gast der Redaktion) am 20. Juni bei RTL Radio erklärt. Der Artikel auf Facebook rief viele ähnliche – wie eben zitiert – Kommentare hervor: um die 300 (Stand: 17.07.23).

Shitstorm

"Dieses Ausmaß hatte ich mir nicht erwartet", entgegnet Claire Schadeck. Die Forscherin und Kultur- und Politikbeauftrage beim CID Fraen an Gender hat bereits öfters mit der Presse gesprochen und Interviews gegeben, aber es sei nie so persönlich geworden. Gemeinsam mit der Soziologin Enrica Pianaro, spezialisiert auf Gender Studies und Sozialpolitik sowie der Dozentin für pädagogische Psychologie Sylvie Kerger veröffentlichte Schadeck im Juni die Ergebnisse eines Forschungsprojekts, das die Darstellung von Geschlechtern in luxemburgischen Schulbüchern der Sekundarstufe analysiert. Bereits 2021 wurde die erste Studie dieser Art veröffentlicht, damals wurden die Schulbücher in der Grundschule untersucht. Für das Forschungsprojekt in diesem Jahr wurden insgesamt 52 Bücher und acht Dokumente aus dem Fach "Vie et Société" (Deutsch: Leben und Gesellschaft) genauer analysiert. Dazu gleich mehr.

"Ich habe das Projekt geleitet", entgegnet Sylvie Kerger. Sie sei auf einer persönlichen Ebene jedoch nach dem Radiointerview weniger impliziert gewesen, da es hierbei nicht direkt um ihre Person ging. "Ich war dennoch überrascht über die Quantität des Shitstorms", denn dieser war allgemein gegen die Ergebnisse ihrer Studie – und somit gegen die drei Forscherinnen – gerichtet. Sie sind sich einig: Es sei schade, dass sie entsprechende Kommentare erhalten haben, doch dies sei kein Grund, die Ergebnisse der Studie nicht weiterhin in der Öffentlichkeit zu promovieren. Selbstverständlich haben sie sich die Frage gestellt, weshalb teilweise eine derartige Reaktion hervorgerufen wurde. "Es ist weniger anstrengend, nicht zu hinterfragen und so weiterzuleben, wie man es bisher getan hat", erklärt es sich Schadeck. "Wir plädieren für eine gleichberechtigte und inklusive Gesellschaft. Im Grunde möchten das alle, aber wenn jemand Macht hat, ist es schwer, davon abzulassen." 

Eine erhebliche Schlussfolgerung der Studie von Kerger, Schadeck und Pianaro war, dass von den 60.000 untersuchten Personen lediglich 20 Prozent weiblich sind, besonders in den Geschichtsbüchern: Von 11.000 sind nicht einmal 2.000 weiblich. Das hat diverse Ursachen, betont Sylvie Kerger. "Frauen haben während Kriegen andere Rollen übernommen, aber trotzdem die Gesellschaft am Laufen gehalten – das wird nur nicht explizit erwähnt. Es ist wichtig, in der Geschichte nicht nur über das Kriegsgeschehen an sich zu berichten, sondern auch zu erzählen, wie die anderen Menschen der Bevölkerung den Krieg erlebt haben." Frauen wurden beispielsweise weniger oft Königin oder Politikerin, genauso wenig Schriftstellerin oder Wissenschaftlerin, weil diese Berufsmöglichkeiten den Männern vorbehalten waren, ergänzt die Dozentin. Erst seit Anfang der 70er Jahre brauchen Frauen nicht mehr die Erlaubnis ihres Ehemannes oder Vaters, um arbeiten gehen zu dürfen. "Das sind Fakten, die wichtig sind zu wissen und nicht in einem Nebensatz erwähnt werden sollten. Das ist ein Teil der Geschichte, den wir ausblenden."

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