Das Versprechen "Mittelschicht"

Von Misch PautschLex Kleren

Die "Mittelschicht": Politiker*innen kämpfen um sie, doch genau definieren will sie keine*r von ihnen. Die meisten von uns sehen sich selbst als Teil von ihr. Doch je genauer man hinschaut, desto ungreifbarer wird der Begriff. Ist er überhaupt noch zeitgemäß? Oder eine romantische Erinnerung an Zeiten ökonomischen Aufschwungs?

Wird der Begriff "Mittelschicht" heute in der Politik erwähnt, schwingt häufig ein Hauch Panik mit: "Die Mittelschicht entlasten und Kaufkraft stärken" verspricht Premierminister Luc Frieden (CSV) in der Regierungsansprache im November 2023. "Hilfen bis tief in die Mittelschicht hinein", kündigte Xavier Bettel (DP) ein Jahr früher zu Beginn der Energiekrisen-Tripartie September 2022 an. In einem Wort-Interview wagte Bettel sich sieben Jahre früher sogar eine pragmatische Definition: "Zur Mittelschicht gehören jene Personen, die zu viel verdienen, um in den Genuss von Beihilfen zu kommen, und trotzdem nicht genug haben, um sich elementare Dinge zu leisten." In einer "gefährlichen Schieflage" sehen Gilles Roth und Laurent Mosar (beide CSV) in einem Meinungsartikel ebenfalls im Wort 2020 den nun "Packesel der Nation", der mit seinem "breiten Buckel den Löwenanteil der Wachstumsrechnung" zahlt, ohne von seinen "Einnahmen zu profitieren". Irgendwie scheint es der breiten Mitte nicht so gut zu gehen, wie es soll.

Dabei war Mittelschicht laut Soziologieprofessor Dr. Louis Chauvel der Universität Luxemburg im Journal-Interview historisch und bis vor sehr kurzem noch "lange eine extrem anziehende Bezeichnung. Für viele Jahrzehnte hat die Mittelschicht die Totalität des Fortschritts in Europa verkörpert: Zugang zu Rente, zu medizinischer Versorgung, Bildungschancen und sozialem Aufstieg." Sie ist laut dem französischen Premier Gabriel Attal das "schlagende Herz der Gesellschaft", gleichzeitig Messlatte und Motor für den Erfolg des Wohlfahrtsstaates. Dadurch übt sie für die Politik eine enorme Anziehungskraft aus, sagt Chauvel: "Wir finden immer wieder die Idee des Kampfes um den 'Medianwähler': Wer den Wähler genau in der Mitte der Gesellschaft davon überzeugt, für ihn zu stimmen, hat gewonnen. Der Rest zieht nach. Nicht umsonst trug das Buch des französische Präsidenten Valéry Giscard d'Estaing, in dem er sich an die Bevölkerung wandte, den Titel Deux Français sur Trois. Schon Aristoteles nannte den 'Durchschnittlichen' das politische Ideal." Dass damals nur landbesitzende Männer wählen konnten, sei ausgeklammert – fürs Erste.

Eine veraltete Vorstellung?

Lange hat zur Mittelschicht gehören bedeutet, ein stabiles, recht vorhersehbares Leben zu führen, in dem man zuversichtlich sein konnte, die "großen Lebensabschnitte" zu erreichen – Ausbildung, Job, Ehe, Hauskauf, Kinder, Rente und der nächsten Generation Türen zu öffnen, baut Chauvel aus. Denn mindestens genauso wichtig wie die tatsächlich gelebte ökonomische und soziale Realität sei für die Mittelschicht das Versprechen sozialen und ökonomischen Aufstiegs. Praktisch bedeutet das vor allem den Zugang zu höherer Bildung: "Die meisten Kinder haben darum mindestens etwa drei Jahre länger Schulen besucht als ihre Eltern."

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